Vorbeiflug eines Sterns erklärt Dynamik des Sonnensystems jenseits von Neptun

Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass vor Milliarden von Jahren ein Stern so nah an unserem Sonnensystem vorbeigeflogen sein könnte, dass tausende kleinere Himmelskörper ihre Flugbahn verändert haben: Unterwegs im äußeren Sonnensystem außerhalb Neptuns Orbit drifteten sie auf stark geneigte Bahnen um die Sonne. Möglicherweise wurden dabei einige von ihnen in Richtung Sonne katapultiert und dabei von Jupiter und Saturn als Monde eingefangen. Herausgefunden hat das ein Team aus Astrophysiker:innen vom Jülich Supercomputing Center (JSC) und der Universität Leiden in den Niederlanden anhand von Computersimulationen. Die beiden Studien dazu wurden jüngst in den renommierten Fachzeitschriften Nature Astronomy und Astrophysical Journal Letters veröffentlicht.

Wenn wir an unser Sonnensystem denken, nehmen wir gewöhnlich an, dass es beim äußersten bekannten Planeten – Neptun – endet. Astrophysikerin Prof. Susanne Pfalzer (JSC) erklärt jedoch: „Es sind mehrere Tausend Himmelskörper bekannt, die sich jenseits der Neptunbahn bewegen.“ Vermutet werden sogar einige zehntausend Objekte, deren Durchmesser 100 Kilometer überschreitet. „Überraschenderweise bewegen sich viele dieser sogenannten Transneptunischen Objekte auf exzentrischen Bahnen, die gegenüber der gemeinsamen Bahnebene der Planeten des Sonnensystems geneigt sind.“ Ein Rätsel, das bislang ungelöst blieb.

Forschungen zufolge könnte ein einst vorbeiziehender Stern für unregelmäßige Monde im äußeren Sonnensystem verantwortlich sein

Gemeinsam mit Amith Govind (JSC) sowie Prof. Simon Portegies Zwart (Universität Leiden) hat Susanne Pfalzner mithilfe von mehr als 3000 Computersimulationen eine mögliche Ursache der ungewöhnlichen Umlaufbahnen untersucht: Könnte ein anderer Stern die seltsamen Bahnen Transneptunischer Objekte verursacht haben?

Forschende lösen kosmisches Rätsel mit Computersimulationen
Der Zwergplanet Pluto umläuft die Sonne außerhalb der Neptunbahn.
NASA / JPL

Die Astrophysiker:innen fanden heraus, dass ein einzelner markanter, naher Vorbeiflug eines anderen Sterns die geneigten und exzentrischen Umlaufbahnen der bekannten Transneptun-Himmelskörper tatsächlich erklären kann. „Sogar die Bahnen von sehr entfernten Objekten können dadurch hergeleitet werden, wie etwa die des im Jahr 2003 entdeckten Zwergplaneten Sedna im äußersten Bereich des Sonnensystems. Und auch Objekte, die sich auf Umlaufbahnen nahezu senkrecht zu den Planetenbahnen bewegen“, erläutert Pfalzner. Ein solcher Vorbeiflug kann darüber hinaus auch die Bahnen von 2008 KV42 und 2011 KT19 erklären – der beiden Himmelskörper, die sich in entgegengesetzter Richtung zu den Planeten bewegen.

„Die beste Übereinstimmung für das heutige äußere Sonnensystem, die wir mit unseren Simulationen gefunden haben, ist ein Stern, der etwas leichter als unsere Sonne war – etwa 0,8 Sonnenmassen“, erklärt Amith Govind. „Dieser Stern ist in einer Entfernung von etwa 16,5 Milliarden Kilometern an unserer Sonne verbeigeflogen. Das ist etwa 110-mal der Abstand zwischen Erde und Sonne, etwas weniger als das Vierfache der Entfernung des äußersten Planeten Neptun.“

Die Erkenntnis, dass der Vorbeiflug eines fremden Sterns vor Milliarden von Jahren auch eine natürliche Erklärung für näherliegende Phänomene liefern könnte, war für die Wissenschaftler:innen am überraschendsten. Als Susanne Pfalzner mit Amith Govind und Frank Wagner (ebenfalls JSC) genauer nachforschte, beobachteten sie wie ein Teil der transneptunischen Objekte in unser Sonnensystem hineingeschleudert wurde – in die Region der äußeren Riesenplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.

Forschende lösen kosmisches Rätsel mit Computersimulationen
Saturns Mond Phoebe ist ein Paradebeispiel für die ungewöhnlichen Eigenschaften der irregulären Monde. Wie viele andere umkreist er Saturn gegenläufig.
NASA / JPL

„Einige dieser Objekte könnten von den Riesenplaneten als Monde eingefangen worden sein“, sagt Simon Portegies Zwart. „Das würde erklären, warum die äußeren Planeten unseres Sonnensystems zwei verschiedene Arten von Monden haben.“ Im Gegensatz zu den regulären Monden, die in der Nähe des Planeten auf kreisförmigen Bahnen umrunden, umkreisen die irregulären Monde den Planeten in größerer Entfernung auf geneigten, länglichen Bahnen. Bisher gab es für dieses Phänomen keine Erklärung. „Die Schönheit dieses Modells liegt in seiner Einfachheit“, so Pfalzner. „Es beantwortet mehrere offene Fragen zu unserem Sonnensystem mit nur einer einzigen Ursache.“

Originalpublikationen:

“Trajectory of the Stellar Flyby Shaping the Outer Solar System” (Nature Astronomy)

DOI: 10.1038/s41550-024-02349-x
and “Irregular moons possibly injected from the outer solar system by a stellar flyby (Astrophysical Journal Letters)”

DOI: 10.3847/2041-8213/ad63a6

Video: Die Forschenden des Simulation and Data Lab Astronomy and Astrophysics am Forschungszentrum Jülich haben mehr als 3000 Computersimulationen durchgeführt, um die Ursache für die ungewöhnlichen Bahnen der Transneptum-Objekte zu finden. Die junge Sonne ist von einer Scheibe aus dem Material umgeben, aus dem sich schließlich die Planeten gebildet haben. Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass der nahe Vorbeiflug eines anderen Sterns diese Scheibe gestört haben könnte. Die Simulation zeigt, wie ein solcher naher Vorbeiflug die Bahnen des äußeren Scheibenmaterials stark beeinflusst hätte. Viele Objekte wären auf exzentrischen Bahnen weit ins All hinausgeschleudert worden. Während das äußere Sonnensystem völlig umstrukturiert worden wäre, wäre das innere Sonnensystem, einschließlich unserer Erde, ungestört geblieben.

Ansprechpartner:innen

Prof. Susanne Pfalzner, JSC

Amith Govind, JSC

Siehe auch die dazugehörige Pressemitteilung des FZJ.

Letzte Änderung: 18.09.2024