Drei Fragen an Stefan Tautz
Um den Austausch von Elektronen in chemischen Reaktionen zu verstehen, muss man nicht nur ihre räumliche Verteilung kennen, sondern gleichzeitig auch genau nachvollziehen können, wie sich diese mit der Zeit verändert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Jülich, Marburg und Graz ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung gelungen. Indem sie Methoden auf dem neuesten Stand der Laser- und Elektronenspektroskopie kombinierten, konnten sie Elektronen beim Transfer durch eine Grenzfläche zwischen einer Molekülschicht und einem Metall in Raum und Zeit beobachten und Bilder von Elektronenorbitalen mit extrem hoher Zeitauflösung aufnehmen.
Ein Gespräch mit Stefan Tautz, Leiter des Jülicher Instituts für Quantum Nanoscience und einer der Hauptautoren der Studie, die heute in der Fachzeitschrift "Science" veröffentlicht wurde.
Professor Tautz, was ist ein Orbital?
Vielen Menschen sind Orbitale sicher noch aus dem Schulunterricht bekannt: Dort werden sie gerne grafisch als bunte, ballonartige Elektronenwolken dargestellt, die die Atomkerne umgeben. Quantenmechanisch stellen sie die Einteilchen-Wellenfunktion im Raum dar - Aufenthaltswahrscheinlichkeitsamplituden für Elektronen. Genau genommen beziehen sich Orbitale nur auf einzelne Elektronen, nicht aber auf Elektronen in Atomen oder Molekülen, die viele Elektronen enthalten, weil sich diese dann zwangsläufig gegenseitig beeinflussen. Trotzdem werden Orbitale auch in diesem Kontext benutzt – in manchen Fällen funktioniert das ganz gut, oft aber auch nicht.
Als quantenmechanische Größen lassen sich Orbitale eigentlich gar nicht beobachten. Nur das Betragsquadrat, was der Aufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte der Elektronen entspricht, lässt sich messen. Dennoch gelang es uns zusammen mit unseren Kollegen um Michael G. Ramsey und Peter Puschnig an der Universität Graz schon 2014, ein Orbital an sich, also die eigentliche Wellenfunktion, aus Messdaten zu rekonstruieren. Welche Realität den Orbitalen tatsächlich einzuräumen ist, darüber streiten sich die Experten auf dem Gebiet schon seit vielen Jahren. So schrieb etwa der Chemie-Nobelpreisträger Roald Hoffmann 1999: "Physicists and chemists have by and large shied away from attributing to orbitals the reality that (we think) they deserve". Und auch der Stellenwert von experimentellen Messungen von Orbitalen war umstritten: Im Jahr 2006 erschien ein vielbeachteter Aufsatz von W.H. E. Schwarz mit dem vielsagenden Titel: "Measuring Orbitals: Provocation or Reality?"
Nun haben wir also erstmals Orbitalbilder (im sogenannten Impulsraum) auch in der Zeit verfolgt – eine enorme Herausforderung aufgrund der extrem schnellen Dynamik von Elektronen. Man braucht eine Zeitauflösung im Bereich von Femtosekunden, das sind 10-15 Sekunden. Durch die Kombination von Photoemissions-Orbital-Tomographie und Femtosekundenlaserspektroskopie konnten wir die Elektronen sogar beim Übergang in einen sogenannten angeregten Zustand durch Raum und Zeit verfolgen – der ultimative Traum der physikalischen Chemie, weil so in Zukunft beispielsweise chemische Reaktionen komplett transparent werden könnten.
Der ultimative Traum der physikalischen Chemie: Sicher sind Sie da nicht die einzigen, die versucht haben, dieses Ziel zu erreichen. Was haben Sie und Ihre Kollegen aus Marburg und Graz besser gemacht?
In der Tat ist Orbital-Tomographie mit Zeitauflösung ein sehr kompetitives Ziel. Viele exzellente Gruppen weltweit arbeiten daran. Ich glaube wir waren letztendlich die ersten, weil drei Voraussetzungen erfüllt waren:
Die Theorie unserer Grazer Kollegen konnte uns genau sagen, nach welchen Winkelverteilungen wir schauen mussten. Und unsere Kollegen um Ulrich Höfer an der Universität Marburg hatten genau den richtigen Laser aufgebaut, der in der Lage ist, die benötigten Femtosekundenpulse zu erzeugen, und ihn dann noch mit einem state-of-the-art Impulsmikroskop kombiniert. Und schließlich: Durch unsere langjährige Erfahrung in der in Orbital-Tomogaphie wussten wir – und das war wirklich der entscheidende Punkt – an welchem Probensystem wir die besten Chancen hatten. Bei so herausfordernden Experimenten muss alles stimmen: Die richtige Theorie, das richtige Equipment und die richtige Probe. Das bedeutet keineswegs, dass dieses Probensystem das einzige ist, mit dem sich zeitaufgelöste Orbital-Tomographie realisieren lässt. Doch für den ersten Schritt, wenn man sich sozusagen ins Neuland wagt, ist die geschickte Wahl des Materialsystems oft entscheidend. Jetzt, wo wir wissen, dass es prinzipiell möglich ist, können wir es vermutlich auch mit anderen Proben zum Laufen bringen. Und das ist definitiv der Plan.
Was war nun das Entscheidende an unserem Probensystem, PTCDA auf einer ultradünnen Kupferoxid Schicht? Es ist die sehr ausgeklügelte Balance zwischen zwei Effekten: Einerseits muss die Wechselwirkung der Moleküle mit dem Substrat stark genug sein, damit sich die Moleküle auf dem Substrat sauber ausrichten, andererseits darf sie nicht zu groß sein, damit die angeregten Elektronen nicht in weniger als einer Femtosekunde wieder im Substrat verschwinden. Wir hatten an PTCDA auf Kupferoxid schon 2017 gearbeitet und wussten daher um sein Potential.
Welche Bedeutung hat für sie die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern?
Die großen Herausforderungen kann man nur gemeinsam lösen. Mit den Pionieren der Photoemissions-Orbital-Tomographie Michael. G. Ramsey und Peter Puschnig von der Karl-Franzens-Universität in Graz arbeiten wir schon seit Jahren zusammen. Am metrologischen Synchrotron der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Berlin betreiben wir mit Mathias Richter und Alexander Gottwald einen speziellen Analysator, den Toroid Analyser, der sich besonders für die Orbital-Tomographie eignet. Der wiederum stammt ursprünglich aus der Gruppe um John Riley von der La Trobe University in Melbourne und ist über das Helmholtz-Zentrum Berlin und einige andere Stationen zu uns nach Jülich gekommen.
Mit der Arbeitsgruppe um Ulrich Höfer an der Universität Marburg arbeiten wir seit gut vier Jahren zusammen, und zwar im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1083, der sich mit inneren Grenzflächen beschäftigt. Ursprünglich hat der SFB uns wegen unserer besonderen Expertise zur Struktur von inneren Grenzflächen zur Mitwirkung eingeladen. Doch es wurde schnell klar, dass wir alle gemeinsam, mit unseren jeweiligen, verschiedenen Expertisen und Kooperationen ideale Voraussetzungen zusammenbringen können, um die Herausforderung der zeitaufgelösten Orbital-Tomographie gemeinsam anzugehen.
Wir haben unser Experiment über einen langen Zeitraum vorbereitet, wollten gerade loslegen – und dann kam Corona. Doch es stellte sich heraus, dass sich eine gute Kooperation selbst von einer Pandemie nicht ausbremsen lässt! Auch wenn sie die Arbeit natürlich erschwert. Die Proben wurden am Forschungszentrum Jülich von unserer Doktorandin Miriam Raths hergestellt. Sobald die fertig waren, mussten sie sofort zum Experiment nach Marburg transportiert werden, im Vakuumkoffer und, es herrschte gerade der erste Lockdown, natürlich unter Wahrung der Abstandsregeln. Als sich im Sommer alles etwas lockerte, konnte unsere Doktorandin dann glücklicherweise in Marburg an den Experimenten direkt mitwirken.
Was dies alles zeigt: Ohne das Engagement von vielen Forscherinnen und Forschern an ganz verschiedenen Instituten und aus unterschiedlichen Bereichen wäre dieses bahnbrechende Experiment nicht möglich gewesen. In der Wissenschaft ist eine gute Zusammenarbeit absolut entscheidend. Und die sollte immer langfristig ausgelegt sein, denn gute Forschung braucht einen langen Atem.
Pressemitteilung vom 18. Februar 2021: Ultraschnelle Elektronendynamik in Raum und Zeit