Wie die Zeit vergeht

Sekunden und Minuten verstreichen auf einer Uhr immer gleich schnell. Dennoch nehmen wir je nach Situation unterschiedlich wahr, wie rasch Zeit vergangen ist. Jülicher Forscher haben im Gehirn mithilfe von KI eine erste Spur eines neuronalen Musters für das Erleben von Zeit gefunden.

Manchmal will die Zeit einfach nicht vergehen: im Wartezimmer beim Arzt, bei einer stupiden Arbeit oder wenn der Zug sich verspätet. Andererseits verfliegt die Zeit auch mal rasend schnell: im Sommerurlaub, beim Joggen durch einen Wald oder bei einem anregenden Gespräch mit einem Freund. Je nach Geschehen erleben Menschen das Verstreichen der Zeit unterschiedlich. Wir haben zwar Sinnesorgane für verschiedene Wahrnehmungen wie Hören, Fühlen oder Schmecken, nicht aber für das Empfinden von Zeit. Irgendetwas muss daher in unserem Gehirn passieren. Was genau, ist bislang unbekannt.

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Für depressiv erkrankte Menschen vergeht die eigene innere Zeit immer langsamer und zäher.

Prof. Kai Vogeley

Gibt es eine innere Uhr?

Einen ersten Hinweis auf ein neuronales Muster für das Zeitempfinden haben jetzt der Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Kai Vogeley und sein Mitarbeiter Dr. Mathis Jording gefunden. Die Jülicher Zeitforscher untersuchen schon seit Jahren, wie Menschen Zeit wahrnehmen. Haben wir ein internes Gefühl für Zeit und wenn ja, wie funktioniert es? Gibt es eine Art Zeitregister für die innere Uhr im Kopf? Und lässt sich das eigene Zeiterleben steuern und verändern, um zum Beispiel das persönliche Wohlbefinden zu steigern?

Vogeley und Jording interessieren diese Fragen nicht nur aus der Sicht der Grundlagenforschung. Sie wollen Zeiterlebnisstörungen bei psychischen Erkrankungen verstehen, um neue Therapien zu entwickeln. Denn depressiv erkrankte Menschen etwa haben ein verändertes und oft negativ empfundenes Zeiterleben (siehe Kasten). „Sie fühlen sich von der äußeren Welt entkoppelt, weil die eigene innere Zeit immer langsamer und zäher vergeht. Die Zeit scheint für sie manchmal sogar stillzustehen, und im Extremfall fühlen sie sich wie tot“, berichtet Kai Vogeley aus seiner psychiatrischen Praxis.

Ein Zeitlabor entwickelt

Doch wie entsteht das Zeitgefühl? Heiß oder kalt spüren wir etwa über die Haut, mit der Nase können wir Gerüche als blumig oder muffig wahrnehmen. „Dies sind direkte Sinne. Ich muss nicht nachdenken, ob ich mir den Finger verbrannt habe. Beim Erleben von Zeit aber spekulieren wir hinterher und rekonstruieren aus Erfahrungen, wie lange etwas gedauert hat, etwa indem ich überlege, wie oft ich beim Warten auf die Uhr geschaut habe“, erklärt Mathis Jording. Dies seien bewusste kognitive Vorgänge. Jording aber möchte wissen, was direkt in der Situation passiert, während die Zeit vergeht. Laufen dabei bestimmte neuronale Prozesse im Kopf ab? Gibt es überhaupt ein Zeiterleben während der Situation, ein subjektives Gefühl für Zeit?

Um diese Fragen zu beantworten, entwickelten Wissenschaftler:innen im von Jülich koordinierten EU-Forschungsprojekt VIRTUALTIMES ein innovatives Konzept. In dessen Mittelpunkt: ein neues Zeitlabor, in dem das Zeitempfinden so weit wie möglich losgelöst von äußeren Einflüssen oder Ablenkungen untersucht werden kann. Möglich macht dies eine hochrealistische, KI-basierte Virtual-Reality-Technologie.

Wer das Zeitlabor betritt, sieht nüchterne Tische, fahle Wände und einen gewöhnlichen Bürostuhl. Doch sobald die Proband:innen eine VR-Brille aufgesetzt haben, befinden sie sich im virtuellen Maschinenraum aus Stahl inmitten eines Raumschiffes. Direkt vor ihnen sehen sie durch ein Fenster ins All. Unzählige Sterne fliegen auf die Testpersonen zu. Deren Aufgabe ist es, nach jeweils 20 Sekunden immer wieder zu berichten, wie schnell oder langsam ihnen die Zeit vorkam. Dabei variieren die Forscher die Anzahl der Sterne und die Geschwindigkeit, mit der sie fliegen. „Es sind also einfache visuelle Reize, mit denen wir das Erleben von Zeit in kurzen Intervallen beeinflussen“, sagt Jording. Parallel messen die Forscher die Hirnaktivität mit einem Elektro­enzephalogramm (EEG). Mehr als 200 Personen haben bislang unterschiedliche Experimente in dem Sternenfeld absolviert.

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Beim Erleben von Zeit rekonstruieren wir hinterher aus Erfahrungen, wie lange etwas gedauert hat.

Dr. Mathis Jording

Mit einem Teil der Messungen haben die Forscher einen Machine-Learning-Algorithmus trainiert, der einen Zusammenhang zwischen den Hirn­aktivitäten und dem berichteten Zeitempfinden aufspüren sollte. Anschließend haben die Forscher der KI den restlichen Teil der Daten gegeben und die jeweilige Prognose der KI zum Zeitempfinden mit der Aussage der Probanden verglichen. Die KI lag erstaunlich gut.

KI erkennt ein Muster

Offensichtlich hatte der Algorithmus tatsächlich einen neuronalen Prozess entdeckt, ein Muster aus den EEG-Messungen, mit dem er das Zeitempfinden des Probanden korrekt vorhersagen konnte. „Wir haben unseren Ergebnissen ein halbes Jahr lang selbst nicht getraut“, sagt Jording. Um die Genauigkeit der KI zu erhöhen und um sicher zu sein, dass die Prognosen nicht nur Zufall waren, haben die Forscher weitere Untersuchungen durchgeführt – ihr Ergebnis wurde bestätigt.

Mithilfe der Erkenntnisse wollen die Forscher eine Theorie des Zeiterlebens entwickeln. Sie möchten außerdem untersuchen, welche Rolle das Zeiterleben für das menschliche Wohl­befinden spielt und welche Zusammenhänge es zwischen Hirnaktivität und Zeiterleben bei psychischen Erkrankungen gibt. Am Ende könnte vielleicht sogar ein Therapiekonzept stehen, eine Art „Zeitkur“. Aber bis dahin dürfte noch viel Zeit vergehen, schätzt Vogeley. Doch er und Jording haben dafür mit ihrem Zeitlabor und dem virtuellen Sternenfeld eine Grundlage geschaffen.

Zeiterleben bei psychischen Krankheiten

Depressive Menschen empfinden Zeit oft als verlangsamt. Das kann so weit gehen, dass ein Patient denkt, er sei tot, weil die Zeit für ihn gefühlt nicht mehr vergeht. Einige Menschen mit Autismus empfinden Zeit nicht als stetig fließend, sondern eher in einzelnen Momenten, die sich wie Perlen aneinanderreihen. Gerät diese Reihenfolge aus den Fugen, etwa wenn gewohnte Abläufe unterbrochen werden, verändert sich auch das Zeitgefühl: Die Zukunft wird dann weniger gut erfahrbar. Manche der Betroffenen berichten, dass sie überhaupt kein Zeitgefühl mehr haben. Viele Menschen mit Schizophrenie können nicht mehr verlässlich unterscheiden, ob etwas in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegt. Das kann so weit gehen, dass Patienten ihr gegenwärtiges Ich nicht als das Gleiche wie in einem vorigen Moment erleben.

Dieser Artikel ist Teil der effzett 2/2024. Text: Katja Engel

Letzte Änderung: 06.01.2025