Richtig oder falsch gefaltet?
Es ist eine andere Dimension - im wahrsten Sinne des Wortes. Bei der Bildung von Proteinen wird aus der linearen Verkettung von Aminosäuren eine komplexe dreidimensionale Struktur. Zwar haben Wissenschaftler den zugrundeliegenden Bauplan, den genetischen Code, bereits in den 60er Jahren entschlüsselt, doch galt der "Code der Proteinfaltung" bisher als Rätsel. Ein Rätsel, dass "DeepMind" nun gelöst haben soll.
Auch in Jülich beschäftigen sich Forschende mit der Struktur von Proteinen. Gunnar Schröder, Leiter der Forschungsgruppe Computational Structural Biology am Institut für Biologische Informationsprozesse erläutert für das Science Media Center die Herausforderungen bei der Vorhersage der Proteinfaltung und bewertet die Ergebnisse des KI-Programms "AlphaFold" des Google-Ablegers "DeepMind".
Chancen und Grenzen der KI
"Die Kette von Aminosäuren eines Proteins lässt sich theoretisch in eine astronomisch große Zahl von Faltungen im dreidimensionalen Raum packen. Aber nur eine dieser Faltungen ist die richtige - nämlich die mit der niedrigsten Energie. Die Vorhersage ist daher extrem komplex", so Schröder. "Die experimentelle Bestimmung von Proteinstrukturen ist ein sehr aufwändiger Prozess und kann unter Umständen Jahre dauern – das gilt vor allem für Membranproteine. Mit AlphaFold dauert die Vorhersage nur einige Stunden." Nach Einschätzung des Jülicher Biophysikers ist die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Künstlichen Intelligenz (KI) ein großer wissenschaftlicher Erfolg. "Es liefert zwar nicht für alle, aber für die große Mehrheit der Strukturen extrem genaue Modelle. Damit lässt sich nun durchaus sagen, dass AlphaFold beziehungsweise DeepMind das Proteinfaltungsproblem praktisch gelöst hat."
Allerdings hat die KI auch ihre Grenzen. So reagieren Proteine auf die Veränderung ihrer Umwelt oder können Fehlbildungen annehmen. Solche Umformungen kann auch AlphaFold derzeit nicht knacken. Für die Arbeit von Schröder und anderer Forschender in Jülich sind aber gerade diese Fehlfaltungen von Bedeutung. Denn ohne Proteine läuft nichts im menschlichen Körper. Und wenn die molekularen Maschinen außer Kontrolle geraten können sie Schaden anrichten – etwa bei Alzheimer oder Diabetes.
Die gesamte Stellungnahme ist – gemeinsam mit den Statements weiterer Experten und Expertinnen – hier erschienen.
„In jeder Zelle verrichtet ein ganzer Maschinenpark seine Arbeit", erklärt Schröder. Der Wissenschaftler ist in seiner Forschung den dreidimensionalen Bauplänen der Eiweißverbindungen auf der Spur. Baustein für Baustein enthüllt er die filigranen Gebilde. Denn die Struktur eines Proteins ist der Schlüssel zu seiner Funktionsweise im Körper.
Funktion folgt Form
Das Bauprinzip ist eigentlich einfach: Jedes Protein besteht aus einer langen Kette. Wie einzelne Perlen reihen sich die biochemischen Bausteine, die Aminosäuren, aneinander. Entscheidend ist die Abfolge der Aminosäuren: „Die gibt vor, in welche charakteristische Struktur sich das Protein faltet, also wie sich diese Perlenkette zu einem dreidimensionalen Gebilde anordnet. Erst diese räumliche Form verleiht dem Molekül seine Funktion“, erklärt Gunnar Schröder.
Und da Proteine eine Fülle an Aufgaben in unserem Körper übernehmen, gibt es eine enorme Vielfalt an Formen. Eine Form transportiert Sauerstoff im Blut, eine andere spannt Muskelfasern an und eine dritte hilft bei der Weiterleitung von Nervenreizen. In Form von Rezeptoren erkennen Proteine Signalstoffe, als Enzyme steuern sie biochemische Reaktionen und als Antikörper bekämpfen sie Eindringlinge wie Viren und Bakterien.
„Fast bei jedem neurodegenerativen Leiden treten fehlgefaltete Proteine auf: bei Parkinson, Alzheimer und anderen Formen der Demenz.“
Gunnar Schröder, Institut für Biologische Informationsprozesse
Doch Proteine sind janusköpfige Moleküle: Neben ihrer natürlichen Form können sie auch eine fehlgefaltete Struktur annehmen. Gunnar Schröder: „Diese Struktur interessiert uns ganz besonders, weil sie mit bestimmten Krankheiten in Verbindung steht. Fast bei jedem neurodegenerativen Leiden treten solche fehlgefalteten Proteine auf: bei Parkinson, Alzheimer und anderen Formen der Demenz.“ Und sein Kollege Junior-Professor Wolfgang Hoyer, ebenfalls vom IBI-7 und von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ergänzt: „Je genauer wir die Struktur dieser defekten Molekülmaschinen kennen, desto besser können wir Medikamente gegen die Krankheiten entwickeln.“
Die fehlgefalteten Proteine stellen die Jülicher Fachleute allerdings vor eine experimentelle Herausforderung: Die Struktur von Proteinen wird üblicherweise mit der Methode der Röntgenkristallographie Atom für Atom untersucht. Dafür muss ein Protein als Kristall vorliegen, also in einer regelmäßigen Struktur. Aber die krankhaft veränderten Eiweißmoleküle lassen sich nicht kristallisieren. Stattdessen lagern sie sich zu langen Fasern zusammen. Diese Fasern, auch Fibrillen genannt, verklumpen zu sogenannten Amyloid-Ablagerungen. Und auch eine andere Methode der Proteinstrukturbestimmung, die NMR-Spektroskopie, eignet sich vor allem für einzelne Moleküle, jedoch nur bedingt für große Proteinablagerungen.
Stattdessen setzten die Jülicher Forscher auf eine relativ junge, aber extrem erfolgreiche Technik: auf die Kryoelektronenmikroskopie, kurz Kryo-EM. Für diese Methode werden die zu untersuchenden Proteine in einer hauchdünnen Wasserschichtförmlich schockgefroren und dann mit dem Elektronenmikroskop durchleuchtet. Gunnar Schröder: „Die Kryo-EM hat der Strukturbiologie einen gewaltigen Schub nach vorne verliehen. Denn sie liefert hochaufgelöste Bilder von komplexen Biomolekülen.“
Das haben die Jülicher Forscher genutzt, um die bisher schärfsten, detailreichsten 3D-Bilder von feinen Fibrillen verschiedener fehlgefalteter Proteine zu produzieren. Dabei erkannten sie überraschend viele Übereinstimmungen zwischen zwei Proteinen, die mit Alzheimer und Typ-2-Diabetes in Verbindungen gebracht werden. In beiden Fällen krümmen sich die Proteine in einer s-förmigen Faltung, beinahe schon deckungsgleich zueinander. Und diese Eiweißmoleküle stapeln sich Schicht für Schicht in den Fasern aufeinander.
„Tatsächlich wissen wir schon länger, dass zwischen den beiden Krankheiten ein Zusammenhang besteht: Sie begünstigen sich gegenseitig. Alzheimer-Patienten haben eine größere Wahrscheinlichkeit, an ‚Alterszucker‘ zu erkranken, und umgekehrt“, erklärt Wolfgang Hoyer. Bei Alzheimer verklumpt die körpereigene Eiweißverbindung Amyloid-beta und bildet unlösliche Ablagerungen im Gehirn, die Plaques. Und an der Entstehung von Typ-2-Diabetes könnte das Biomolekül IAPP („Insel-Amyloid-Polypeptid“) beteiligt sein. In seiner fehlerhaften Form bildet es in der Bauchspeicheldrüse kleine Klümpchen. „Das deutet darauf hin, dass die fehlgefalteten Proteine mit der Krankheitsentstehung zu tun haben – indem sie die insulinproduzierenden Zellen zerstören“, so Wolfgang Hoyer.
„Dank unserer Aufnahmen können wir jetzt genau nachvollziehen, wie Fibrillen aus fehlgefalteten Proteinen wachsen – und inwiefern sich Amyloid-beta und IAPP ähneln“, sagt Gunnar Schröder. „Die Ähnlichkeit der Strukturen legt einen Mechanismus nahe, nach dem die beiden Proteine miteinander interagieren“, erklärt Wolfgang Hoyer. So sei es vorstellbar, dass fehlgefaltetes IAPP das Amyloid-beta förmlich ansteckt und dessen übliche Molekülform einfach umklappt.
Aus den hochaufgelösten Bildern lässt sich außerdem ablesen, welche Einzelbausteine für das Zusammenkleben der fehlgefalteten Proteine entscheidend sind. Und das könnte dabei helfen, Medikamente gegen beide Leiden zu entwickeln.Viele Pharmazeuten und Biowissenschaftler suchen nach Substanzen, die die Verklumpung der Proteine hemmen oder bereits entstandene Fibrillen wieder abbauen. „An unserer hochaufgelösten 3D-Struktur kann man sich nun zum Beispiel anschauen, wie das Ende der Fibrille chemisch beschaffen ist. Und daraufhin Wirkstoffe entwerfen, die an die Oberfläche binden und so das Verkleben zur Plaque unterbrechen können.“ Diese Moleküle würden sich passgenau wie ein Deckel auf das Fibrillenende setzen und es abschließen.
1906 hatte der Nervenarzt Alois Alzheimer erstmals die schadhaften Plaques im Gehirn einer verstorbenen Patientin entdeckt. Die hochgenauen Bilder der Kryo-EM könnten nun gut 115 Jahre später dabei helfen, diese Form der Demenz dauerhaft zu besiegen.
Kryo-Elektronenmikroskopie: Eiskalter Blick auf den Maschinenpark der Zelle
Im Jahr 2008 arbeitete Carsten Sachse als Postdoktorand am renommierten MRC Laboratory of Molecular Biology im englischen Cambridge. Eine herausfordernde Zeit, wie sich der Biochemiker erinnert: „Unser Arbeitsgruppenleiter schlug ausschließlich fantastische Projekte vor, die uns zu dieser Zeit unmöglich zu verwirklichen schienen. Immer kleinere Strukturen von Biomolekülen wollte er sichtbar machen, immer feinere Details erkennen.“ Im Zentrum der Projekte stand eine neue Methode: die Kryoelektronenmikroskopie, kurz Kryo-EM. Damit hatte der Arbeitsgruppenleiter offenbar den richtigen Riecher. Die Technik entwickelte sich Schritt für Schritt weiter – mit Erfolg: „Innerhalb weniger Jahre erlebte die Kryo-EM einen ungeheuren Boom. Und heutzutage gehören die vermeintlich verwegenen Ideen von damals zu unseren Routineaufgaben. Seit 2014 haben wir einen exponentiellen Anstieg bei der Zahl der Moleküle gesehen, deren Struktur mithilfe der Kryo-EM aufgeklärt wurde. Und das setzt sich weiterhin fort. Mittlerweile stehen wir bei 10.000 Strukturen“, weiß Sachse.
Inzwischen leitet Carsten Sachse als Professor und Kryo-EM-Experte die Abteilung Strukturbiologie am Jülicher Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C-3). Dort stehen hochauflösende Elektronenmikroskope; drei bis vier Meter hohe Metallsäulen. In ihrem Innern verbergen sich vor allem elektromagnetische Linsen, die den Elektronenstrahl fokussieren. Mit den Geräten ist der Forscher den Rätseln der Autophagie auf der Spur: „Das ist die Müllabfuhr der Zelle. EinProzess, der zum Beispiel fehlgefaltete Proteine aus der Zelle entfernt und wiederverwertet.“
Schockartig einfrieren
Die beteiligten Biomoleküle sind äußerst fragil. Ein Elektronenstrahl könnte sie leicht zerstören. Deshalb werden sie in eine feste, tiefgekühlteWasserschicht eingebettet – bei einer Temperatur von minus 180 Grad Celsius. „Dort sind sie geschützt und können sozusagen in ihrem natürlichen Medium untersucht werden“, erklärt der Forscher. Vorbereitet werden die Proben, indem sie in Wasser gelöst werden. Die Lösung wird auf einem engmaschigen Metallgitter aufgetragen und dann in eiskaltes, flüssiges Ethan geschossen. Das Wasser erstarrt blitzschnell in einer glasartigen Struktur, ohne zu kristallisieren. „Dadurch bleibt die Wasserschicht durchsichtig für den Elektronenstrahl. An Kristallen würden die Elektronen gestreut werden – so dass das Bild nicht mehr auszuwerten ist.“
In der Probe sind Tausende Exemplare des zu untersuchenden Moleküls zufällig verteilt. Sie wenden dem Elektronenstrahl verschiedene Seiten zu. Daher produziert das Mikroskop eine Reihe von Schnappschüssen des winzigen Objekts aus vielen unterschiedlichen Blickrichtungen – wie kleine Silhouetten. Daraus setzt ein leistungsstarker Computer dann ein detailliertes dreidimensionales Bild des Moleküls zusammen.
„Im Moment isolieren wir die Moleküle, die wir untersuchen, aus der Zelle. Unser Ziel ist aber, dass wir auch Bilder direkt aus der Zelle liefern können – und zwar mit einer vergleichbaren Schärfe wie in der Lösung“, sagt Carsten Sachse. „Eine der Herausforderungen dabei besteht darin, das Zielprotein zu finden in einer Suppe von Hunderten anderen Eiweißen und Stoffwechselprodukten, die in der Zelle herumschwimmen.“
Solche Forschungsarbeiten sollen am Ernst Ruska-Centrum 2.0 stattfinden, einem gemeinsamen Infrastrukturprojekt, zu dem sich das Forschungszentrum Jülich mit weiteren Partnern zusammengeschlossen hat. In dem nationalen Kompetenzzentrum für hochauflösende Elektronenmikroskopie sollen dann Forschungsvorhaben angegangen werden, die ähnlich visionär klingen wie die „unmöglichen Ideen“ von Carsten Sachses Arbeitsgruppenleiter damals in Cambridge. Dieser war übrigens kein Geringerer als Richard Henderson, der im Jahr 2017 zusammen mit Jacques Dubochet und Joachim Frank den Chemie-Nobelpreis erhalten hat – für die Entwicklung der Kryoelektronenmikroskopie.
Arndt Reuning
Weitere Informationen
Institut für Biologische Informationsprozesse - Strukturbiochemie (IBI-7)
Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C-3)