Roadmap für die digitalen Neurowissenschaften

25. April 2024

Die Neurowissenschaften sind nicht zuletzt durch das EU-Flagship Human Brain Project (HBP) und die dort entwickelte Forschungsplattform EBRAINS in eine neue, digitale Phase eingetreten. Das Verknüpfen von Supercomputing und Hirnforschung und eine groß angelegte, multidisziplinäre Zusammenarbeit haben einen innovativen, multiskaligen Ansatz zur Entschlüsselung des Gehirns, seines Aufbaus und seiner Funktionen ermöglicht und dazu Plattformen und Werkzeuge geschaffen. Diese Umwälzung eröffnet Hirnforschung, Medizin und Technologie neue Möglichkeiten. Ein jetzt im Fachmagazin Imaging Neuroscience veröffentlichtes Positionspapier von über 100 Autor:innen fasst die Entwicklung, den aktuellen Stand sowie die Eckpunkte für die weiteren Ziele im neuen Forschungsfeld der digitalen Neurowissenschaften zusammen. Im Interview gibt die Erstautorin, die international renommierte Hirnforscherin Prof. Katrin Amunts, einen Einblick in Inhalt und Entstehung.

Roadmap für die digitalen Neurowissenschaften
Prof. Katrin Amunts ist Direktorin am Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin, Direktorin des Cécile und Oskar Vogt-Instituts für Hirnforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Joint CEO von EBRAINS. Von 2016 bis 2023 war sie wissenschaftliche Leiterin des Human Brain Project.
Mareen Fischinger/Forschungszentrum Jülich

Frau Prof. Amunts, warum ist Hirnforschung so anspruchsvoll?

Katrin Amunts: Das Gehirn ist eines der komplexesten Systeme, die der Mensch kennt. Wir erforschen das Gehirn auf mehreren räumlichen und zeitlichen Skalen - von einzelnen Molekülen bis zum ganzen Gehirn und dem Körper. Darüber hinaus ändert es sich und passt sich im Laufe des Lebens an – das geschieht innerhalb von Millisekunden bis über die gesamte Lebensspanne. Diese verschiedenen Skalen müssen gemeinsam betrachtet werden, um ein grundlegendes Verständnis von Gehirnstruktur und Funktion zu entwickeln.

Welche Veränderungen haben die Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren entscheidend geprägt?

Die Art und Weise, wie Hirnforschung betrieben wird, hat sich grundlegend gewandelt. Digitale Technologien und neue Instrumente, Werkzeuge und Methoden verändern das Feld. Ein Beispiel sind unsere dreidimensionalen Gehirnatlanten, die inzwischen zu einer Art von Google Maps geworden sind. Sie bieten nicht nur detaillierte Karten des Gehirns, sondern auch eine große Menge an Daten und Software, um damit zu arbeiten. Daneben schaffen neue, groß angelegte Kooperationen innerhalb Europas und weltweit auf Basis der gemeinsamen Nutzung von Daten und Instrumenten Synergien. Sie tragen damit der großen Dynamik in der Forschung Rechnung. Der Wandel hat zu wichtigen Fortschritten geführt und eröffnet neue Möglichkeiten, die Hirnforschung, Medizin und durch das Gehirn inspirierte Technologien voranzubringen.

Was sind die Hintergründe zur Entstehung des Positionspapiers?

Digitale Neurowissenschaften verbinden Grundlagenforschung, Datenintegration auf verschiedenen Ebenen, Zusammenarbeit in großem Maßstab und die Umsetzung in die medizinische Praxis. Innovative Computertechniken ermöglichen ein tieferes Verständnis des Gehirns, öffnen aber gleichzeitig die Tür zu neuen Fragen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir solche Entwicklungen bewerten, besser noch vorhersehen und mitgestalten. So können wir die Chancen maximieren und die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts für die Forschung, ihre Umsetzung mit Rücksicht auf die ethischen und gesellschaftlichen Aspekte bewältigen. Das Papier bietet hierzu den Rahmen, quasi eine „wissenschaftliche Roadmap“.

Die Entstehung des Positionspapiers verlief in mehreren Stufen. Wie genau?

Vor zwei Jahren initiierte das HBP einen für Forschende in aller Welt offenen und gemeinschaftlich getragenen Austausch von wissenschaftlichen Meinungen und Daten, an deren Ende das jetzt veröffentlichte Positionspapier steht. Eine erste Version von etwa 40 Wissenschaftler:innen wurde im März 2022 auf der offenen Publikationsplattform Zenodo veröffentlicht mit dem Aufruf besonders an Forschende außerhalb des HBP, weitere Perspektiven einzubringen. Das Papier wuchs und wuchs von Auflage zu Auflage. Die fünfte und finale Version mit über 100 Autor:innen ist jetzt im Journal Imaging Neuroscience erschienen. Sie kommen nicht nur aus Europa, sondern auch aus den USA, Kanada und Asien.

Welches sind Beispiele für angestrebte Ziele der digitalen Neurowissenschaften in der kommenden Dekade?

Das Papier identifiziert insgesamt acht Schwerpunkte für der Forschung. Beispiel für die medizinische Anwendung ist der sogenannte „digitale Zwilling“: Das sind computergestützte, mathematische Gehirnmodelle, die kontinuierlich mit Messdaten aktualisiert werden. Sie sind dem Original nicht so ähnlich, wie es sich anhört, sondern stark vereinfachte Modelle, die helfen, einen ganz bestimmten Zusammenhang besser zu verstehen. Personalisierte Modelle werden es uns zunehmend besser ermöglichen, Diagnostik und Therapie zu verbessern. So wird etwa auf Basis von Forschungen des HBP der Einsatz des „digitalen Zwillings“ für die bessere Planung von operativen Eingriffen bei Epilepsie erforscht. Virtuelle Gehirne ermöglichen es uns auch, grundlegende Forschungshypothesen über die Organisation unseres komplexesten Organs zu testen und ebnen gleichzeitig den Weg für innovative Neurotechnologien.

Welche Rolle spielt dabei die Forschungsplattform EBRAINS?

EBRAINS ist aus der Arbeit des HBP hervorgegangen. Diese neue digitale und kollaborative Forschungsinfrastruktur ermöglicht die Integration von Daten, die verschiedene Forschergruppen aus unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlichen Ansätzen zur Verfügung stellen und macht sie anderen für ihre Forschungsprojekte zugänglich. EBRAINS bietet eine große Bandbreite von verschiedenen digitalen Werkzeugen und Diensten zur Unterstützung von Neurowissenschaftler:innen. Dazu gehört auch der Zugang zu leistungsstarken Superrechnern wie denen des Jülich Supercomputing Centre JSC, des CEA in Frankreich oder CINECA in Italien, die Teil einer eigenen Infrastruktur namens Fenix sind.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen künstlicher Intelligenz (KI) und neurowissenschaftlicher Forschung in den nächsten zehn Jahren?

KI-basierte Methoden werden zu einem immer leistungsfähigeren Werkzeug für Neurowissenschaftler. KI-Basismodelle verändern die Forschung in einer Weise, die es erlaubt, völlig neue Fragen zu adressieren. Gleichzeitig müssen wir besser verstehen, wie wir einige der Grenzen überwinden können, die diese Methoden aufweisen, z. B., indem wir dafür untersuchen, wie Lernprozesse im Gehirn funktionieren. Ein solcher Transfer hat bereits in verschiedenen Bereichen stattgefunden: einige neuro-inspirierte KI-Algorithmen haben dadurch bereits bemerkenswerte Eigenschaften gezeigt, zum Beispiel lernen sie schneller und mit weniger Trainingsdaten. Erkenntnisse aus der Hirnforschung wurden auch für die Entwicklung neuer Hardware genutzt - zum Beispiel in BrainScaleS und SpiNNaker, die heute zu den leistungsfähigsten neuromorphen Computer-Systemen gehören. Beide sind aus dem HBP hervorgegangen und haben bestimmte Vorteile bei der Echtzeitverarbeitung und Energieeffizienz. Bei EBRAINS sind sie Forschern frei zugänglich.

In Jülich sind wir für die Entwicklungen im Bereich KI gut aufgestellt. Mit JUPITER wird bald einer der weltweit stärksten KI-Supercomputer der Wissenschaft zur Verfügung stehen. Davon werden nicht zuletzt die Neurowissenschaften immens profitieren.

Originalveröffentlichung: K. Amunts et al., The coming decade of digital brain research. A vision for neuroscience at the intersection of technology and computing. Imaging Neuroscience (2024)

Ansprechpartner:innen

Prof. Dr. med. Katrin Amunts

Director and Working Group Leader "Architecture and Brain Function"

  • Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM)
  • Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1)
Gebäude 15.9 /
Raum 3022
+49 2461/61-4300
E-Mail

Erhard Zeiss

Wissenschaftlicher Kommunikationsreferent

  • Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM)
  • Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1)
Gebäude 15.9 /
Raum 3033
+49 2461/61-1841
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Letzte Änderung: 03.05.2024