"Ob es sich hier um 'neue Physik' handelt oder nicht, wissen wir noch nicht"
Vor einigen Wochen erschienen zeitgleich zwei Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. In beiden ging es um ein zwanzig Jahre altes Rätsel: Das magnetische Moment des Myons. Seit den ersten Präzisionsmessungen zu Beginn des Jahrtausends gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen den theoretischen Berechnungen und den experimentellen Messungen. Das Myon verhält sich nicht so, wie es nach dem seit langem etablierten Standardmodell der Teilchenphysik eigentlich sollte. Das könnte ein Hinweis auf eine "neue Physik" sein, jenseits des Standardmodells, jenseits von dem, was wir als gegeben annehmen.
Die im April veröffentlichten ersten Daten des g-2-Experiments am Fermilab haben diese Diskrepanz zum Standardmodell erneut bestätigt, was in der wissenschaftsinteressierten Öffentlichkeit für große Aufregung sorgte. Die "Lücke" zu den älteren theoretischen Rechnungen warf erneut die Frage auf, ob es sich hier um Hinweise auf eine neue Kraft oder eine neue Physik handeln könnte. Am gleichen Tag veröffentlichte eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern in der Fachzeitschrift „Nature“ eine neue Berechnung des Myon-Moments. Diese bringt die theoretische Vorhersage näher an den experimentellen Wert und verkleinert damit die Diskrepanz.
Ein Gespräch mit Prof. Kalman Szabo vom Jülich Supercomputing Centre, einem der Autoren des Nature-Artikels.
Prof. Szabo, was ist das magnetische Moment des Myons und wieso ist die Diskrepanz zwischen theoretischen und experimentellen Werten dafür so wichtig?
Das Myon erzeugt ein Magnetfeld um sich herum, das magnetische Moment gibt die Stärke dieses Magnetfeldes an. Die magnetischen Momente des Elektrons und des Myons gehören zu den am genauesten bekannten Größen in der Natur. Schon seit vielen Jahrzehnten spielen sie eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Teilchenphysik. So gab es beispielsweise Ende der vierziger Jahre bereits schon einmal eine solche Abweichung zwischen Experiment und Theorie. Der Versuch, die widersprüchlichen Werte in Einklang zu bringen, stimulierte die Entwicklung der Quantenelektrodynamik und der Renormierungstheorie – führte also zu neuer, fundamentaler Physik. Bei der heutigen Diskrepanz hoffen viele, dass die Geschichte sich wiederholt. Worauf es am Ende ausläuft, ob es sich hier um „neue Physik" handelt oder nicht, wissen wir noch nicht. Deshalb ist das Thema so spannend.
Welche Rolle spielt dabei Ihre neue Berechnung und wie haben Sie den neuen theoretischen Wert mit bisher nicht dagewesener Präzision berechnen können?
Der theoretische Wert setzt sich aus vielen Teilen zusammen. Wir haben einen dieser Beiträge mit einer neuen Methode berechnet. Die Methode - Gitter Quanten Chromodynamik (Gitter QCD) - existiert schon seit vielen Jahren. Aber uns ist es erstmals gelungen, damit eine Präzision zu erreichen, die das Ergebnis aussagekräftig macht. Das haben wir vor allem den Jülicher Supercomputern verdanken, ohne die diese Berechnungen nicht möglich gewesen wären. Fünf Jahre lang mussten unter anderem JUQUEEN, JURECA und JUWELS ununterbrochen rechnen, um das Ergebnis zu erreichen.
Die Abbildung zeigt die Werte für das magnetische Moment des Myons: unsere Berechnung im grauen Balken, in grün der alte theoretische und in lila die experimentellen Werte. Der alte theoretische Wert ist signifikant von dem experimentellen entfernt – er hat eine sogenannte Standardabweichung von 4,2 Sigma und spricht damit für "neue Physik". Unsere Berechnung ist dagegen vereinbar mit den im Experiment gemessenen Werten. Zwar gibt es immer noch eine Abweichung zwischen Standardmodell und Experiment (1,5 Sigma), diese ist aber nicht ungewöhnlich.
Wie geht es weiter nun in Ihrer Forschung? Was sind Ihre nächsten Ziele?
Zuerst einmal müssen wir herausfinden, warum sich die alten und die neuen theoretischen Berechnungen unterscheiden. Es kann sein, dass ein kluger Kopf den Grund für die Diskrepanz schon morgen findet, aber es kann auch noch Jahre dauern, bis wir das Problem endgültig lösen. Außerdem wird in den nächsten zwei bis drei Jahren die experimentelle Messung noch deutlich präziser werden. Theoretiker müssen ihre Ergebnisse noch erheblich verbessern, wenn sie mit ihren Kollegen aus der Experimentalphysik mithalten wollen. Dafür sind neue Gitter-QCD Berechnungen unumgänglich.
Prof. Kalman Szabo ist theoretischer Physiker am Jülich Supercomputing Centre, seine Expertise sind numerische Simulationen in Elementarteilchenphysik. Mit seinen Kollegen und mit den Jülicher Supercomputern rechnete er bereits mehrere wichtige Größen im Zusammenhang mit der starken Wechselwirkung aus, wie beispielsweise die Massendifferenz zwischen Neutron und Proton oder die thermodynamische Zustandsgleichung des frühen Universums.
Weitere Informationen:
Pressemitteilung des Forschungszentrums Jülich vom 7. April 2021: Magnetisches Rätsel mit Myonen
Jülich Supercomputing Centre (JSC)
Ansprechpartner:
Prof. Kalman Szabo
Leiter der Helmholtz research group "Nuclear and particle physics"
Jülich Supercomputing Centre (JSC)
Tel.: 02461 61-96471
E-Mail: k.szabo@fz-juelich.de