Wie sicher ist die Energieversorgung ohne russisches Erdgas?

Wissenschaftler:innen des Forschungszentrums Jülich liefern aktuelle Daten, Fakten und Handlungsempfehlungen zum Ukraine-Konflikt

Jülich, 17. März 2022 – Russland ist der wichtigste Erdgaslieferant für Deutschland und Europa. Mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine scheint ein kompletter Importstopp denkbar. Um mögliche Folgen für die Energieversorgung in Deutschland zu ermitteln, haben Wissenschaftler:innen des Instituts für techno-ökonomische Systemanalyse am Forschungszentrum Jülich detaillierte Analysen durchgeführt. Die daraus abgeleiteten Kernaussagen und Handlungsempfehlungen zeigen, in welchem Umfang und auf welche Art sich der Wegfall russischer Erdgasimporte auf verschiedenen Zeitskalen, innerhalb weniger Tage, Monate und Jahre, kompensieren lässt.

Erdgasverdichterstation Reckrod (Hessen)
Erdgasverdichterstation Reckrod (Hessen, Symbolbild)
GASCADE

Deutschland ist bei der Energieversorgung – wie ganz Europa – in einem hohen Maße auf Importe angewiesen. Über 70 Prozent der in Deutschland benötigten Energie kommt aus dem Ausland. Im Falle des Energieträgers Erdgas ist diese Abhängigkeit besonders ausgeprägt. Rund 94 Prozent werden importiert, über die Hälfte davon stammt aus Russland. Aufgrund des Kriegs in der Ukraine wird es aktuell für möglich gehalten, dass diese russischen Erdgasimporte als mögliche Sanktionsmaßnahme eingestellt werden.

Der Wegfall russischer Erdgasimporte wirft jedoch kritische Fragen hinsichtlich der Energieversorgung auf: Wie kann der Importstopp innerhalb weniger Tage oder Monate kompensiert werden? Welche Rolle könnten zusätzliche Flüssigerdgas-Lieferungen spielen? Wie lange können Erdgasspeicher mögliche Versorgungsengpässe überbrücken? Und welche Strategien gibt es, um mittel- und langfristig unabhängiger vom russischen Gas zu werden?

Wissenschaftler:innen des Instituts für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK 3) des Forschungszentrums Jülich haben detailliierte Analysen durchgeführt und daraus entsprechende Handlungsempfehlungen abgeleitet. Ihre Berechnungen ermöglichen es, Kompensationsmöglichkeiten und Alternativen zu russischen Erdgasimporten nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ einzuschätzen.

Die Kernaussagen und Handlungsempfehlungen im Überblick:

Kurzfristig ein Drittel der russischen Erdgasimporte verzichtbar

Ein vollständiger Lieferstopp russischen Erdgases ließe sich nicht vollständig innerhalb weniger Tage kompensieren. Durch Einsparungen könnte kurzfristig auf etwa ein Drittel des nach Deutschland gelieferten Erdgases aus Russland verzichtet werden. Die sektorübergreifenden Maßnahmen beinhalten beispielsweise eine Änderung des Heizverhaltens in Haushalten sowie im Bereich Gewerbe Handel und Dienstleistungen, konkret: die Absenkung der Raumtemperatur um 1 bis 2 Grad Celsius. Weiterhin wurde der vermehrte Einsatz alternativer Energieträger in industriellen Anlagen angenommen sowie der Ersatz von Gas- durch Kohlestrom, wenngleich letzterer mit zusätzlichen CO2-Emissionen verbunden ist.

Mittelfristig Importstopp in wenigen Monaten handhabbar, aber ambitioniert

In einem Zeitraum von wenigen Monaten könnte ein Lieferstopp von russischem Erdgas in einer europäischen Anstrengung kompensiert werden. Insbesondere die Energieversorgung der Haushalte und des Gewerbes über den nächsten Winter könnte gesichert werden. Notwendig hierfür wären allerdings Einschränkungen bei der Nachfrage, wie sie schon als kurzfristige Maßnahmen vorgestellt wurden. Zusätzlich ist außerdem eine intensivere Nutzung von verflüssigtem Erdgas (LNG, englisch liquified natural gas) erforderlich sowie eine staatlich geregelte Vorratsspeicherung von Erdgas.

Über alternative Bezugswege lässt sich ausbleibendes Erdgas aus Russland innerhalb weniger Monate im Wesentlichen nur durch zusätzliche Importe von LNG ersetzen. Der Transport von LNG ist nicht auf bestehende Pipelines angewiesen. Stattdessen kann es aus Ländern wie den USA, Australien und Katar mit großen Schiffen nach Europa gebracht werden. Ein deutscher Alleingang aus der russischen Importabhängigkeit ist hier nicht ausreichend. Es bedarf vielmehr einer gesamteuropäischen Anstrengung und Strategie. Denn Russland hält nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU einen großen Anteil an den Erdgasimporten, über 40 Prozent sind es europaweit. Erforderlich wäre daher eine konzertierte europäische Beschaffungsstrategie für LNG mit langfristigen Verträgen, um eine höhere Auslastung der bestehenden LNG-Terminals zu erzielen. In der Vergangenheit wurden die bestehenden Kapazitäten in den europäischen Nachbarländern nicht vollständig genutzt.

Verschärft wird die Abhängigkeit von russischem Gas derzeit noch durch die Lage bei den Gasspeichern. Deutschland verfügt über die größten Erdgasspeicherkapazitäten in Europa. Etwa 20 Prozent davon befinden sich im Besitz russischer Firmen. Bislang setzte man vorrangig auf marktwirtschaftliche Anreize, um sicherzustellen, dass die vorhandenen Speicher für den Winter ausreichend gefüllt werden. Doch diese reichen, wie die letzten Monate gezeigt haben, nicht aus. Die in russischem Besitz befindlichen Speicher wurden nicht aufgefüllt, ohne dass ein marktwirtschaftlicher Grund hierfür ersichtlich wäre. Zukünftig ist daher eine staatlich geregelte strategische Gasbevorratung notwendig, die ausreichende Speicherfüllstände zu bestimmten Zeitpunkten garantiert. Das in Vorbereitung befindliche Gesetz zur Gasspeicherbevorratung wird hier in den nächsten Monaten Abhilfe schaffen.

Mittel- bis langfristige Diversifizierung von Energieimporten

Der Bau von LNG-Terminals in Deutschland erscheint unumgänglich, um mittel- und langfristig innerhalb weniger Jahre alternative Transportwege für den Bezug von Erdgas zu erschließen. Deutschland verfügt aktuell noch über keine LNG-Terminals. Derzeit geplant ist der Aufbau einer Kapazität von maximal 30 Milliarden Kubikmeter, was etwa einem Drittel des heutigen Erdgasbedarfs entspricht. Diese geplante Kapazität sollte schnellstmöglich fertiggestellt werden. Um die Treibhausgasneutralität Deutschland und die Wirtschaftlichkeit der Terminals langfristig zu gewährleisten, sollten diese zukunftsorientiert konzipiert werden, sodass sie auch für eine zukünftigen Versorgung mit Wasserstoff genutzt werden können.

Ebenfalls notwendig für die Abwendung vom russischen Gas sind Einsparungen beim Verbrauch. Diese betreffen insbesondere die Haushalte und Industrie. Diese stellen sowohl EU-weit als auch in Deutschland die größten Verbraucher dar. Es gilt daher, die Durchführung von Energieeinsparmaßnahmen wie die Wärmedämmung von Gebäuden weiter zu forcieren. Darüber hinaus ist der Austausch von Gasheizungen durch Wärmepumpen zu beschleunigen. Beide Maßnahmen bewirken eine signifikante Einsparung von Erdgas und ebnen den Weg für eine treibhausgasneutrale Energieversorgung. Die Maßnahmen sollten durch entsprechende zusätzliche Förderprogramme vorangetrieben werden, um eine schnelle Umsetzung zu erreichen.

Langfristige Unabhängigkeit durch Energieeffizienz und erneuerbare Energien

Die Energiewende führt schließlich langfristig dazu, dass Erdgas für die Energieversorgung immer mehr an Relevanz verliert. In einer treibhausgasneutralen Energieversorgung im Jahr 2045 spielt Erdgas praktisch keine Rolle mehr, wie die Analysen des Instituts für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3) zeigen. Heute importiert Deutschland noch über 70 Prozent der insgesamt benötigen Energie. Im Jahr 2045 werden es nur noch gut 20 Prozent sein – bei sinkendem Energieverbrauch. Der Ausbau der Erneuerbaren – Windkraft, Photovoltaik, Bioenergie- sollte daher massiv vorangetrieben werden und ist neben den Verbesserungen der Energieeffizienz die nachhaltigste Option, um sich aus der Importabhängigkeit zu befreien.

Zeitstrahl
Mögliche Maßnahmen und resultierende Folgen im Falle eines Importstopps von russischem Erdgas für unterschiedliche Zeithorizonte.
Forschungszentrum Jülich

Weitere Informationen:

Vollständige Analyse des Instituts für techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3)

Pressemitteilung vom 1. April 2022, Erdgas-Stopp und die Folgen: Web-Applikation des Forschungszentrums Jülich berechnet Szenarien eines möglichen Embargos

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Detlef Stolten
Leiter des Instituts für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3)
Tel.: +49 2461 61-3076
E-Mail: d.stolten@fz-juelich.de

Prof. Dr. Jochen Linßen
Abteilungsleiter, Institut für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3)
Tel.: +49 175 1495243
E-Mail: j.linssen@fz-juelich.de

Dr. Leander Kotzur
Abteilungsleiter, Institut für Techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3)
Tel.: +49 151 16723368
E-Mail: l.kotzur@fz-juelich.de

Pressekontakt:

Tobias Schlößer
Pressereferent, Unternehmenskommunikation
Tel.: +49 2461 61-4771
E-Mail: t.schloesser@fz-juelich.de

Letzte Änderung: 19.05.2022