Ein dreidimensionaler Gehirnatlas als virtuelles "Nachschlagewerk"
Seit vielen Jahren kartieren Neurowissenschaftler in Zusammenarbeit mit Physikern und Ingenieuren des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1) bereits die Hirnrinde und die darunter liegenden Kerngebiete. Anhand von Gewebeschnitten, die jeweils ein 20-tausendstel Millimeter dünn sind, erfassen und analysieren sie jede einzelne Zelle sowie zahlreiche Moleküle, die der Informationsübertragung dienen und können so Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Gehirns ziehen.
Dreidimensionales Gehirnmodell "BigBrain" anhand eines Gehirns
Das bisher genaueste Modell eines menschlichen Gehirns basiert auf 7.400 Gewebeschnitten eines einzigen Gehirns. Die Gewebeschnitte mit jeweils mit einer Dicke von 20 Mikrometern wurden einzeln gescannt und ihre digitalen Bilder an Rechnern grob zusammengesetzt. Mit Hochleistungsrechnern und spezieller Bildbearbeitungssoftware rekonstruierten Forscher daraus dann das das virtuelle Hirnmodell "BigBrain".
BigBrain ist ein anatomischer Atlas mit bisher unerreichter räumlicher Auflösung. Sie entspricht etwa der Größe einer Nervenzelle oder weniger als der Hälfte eines Haardurchmessers. Mit dem Modell ist es möglich, in allen drei Ebenen des Raums die komplizierte Struktur des Gehirns auf mikroskopischer Ebene zu sehen und zu verstehen.
Fünf Jahre haben Jülicher Forscher um Prof. Katrin Amunts gemeinsam mit Kollegen aus Montreal / Kanada an dem Modell gearbeitet. Die Ergebnisse wurden in der renommierten Fachzeitschrift Science vorgestellt.
Wahrscheinlichkeitskarten auf Grundlage vieler Gehirne
Wenn man die Hirnkarten vieler Gehirne übereinander legt, entstehen Wahrscheinlichkeitskarten ("probability maps"), die angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Hirnareal in einem bestimmten Punkt des Gehirns anzutreffen ist. Dadurch werden die individuellen Unterschiede menschlicher Gehirne berücksichtigt. In "Julich Brain Atlas" arbeiten die Jülicher Wissenschaftler an einer solchen Wahrscheinlichkeitskarte.
Neben der räumlichen Aufteilung des Gehirns untersuchen die Forscher auch, wie verschiedene Regionen als System zusammenwirken, das heißt wie Struktur und Funktion zusammenhängen. Bei Letzterem hilft ihnen die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRT). Sie zeigt, welche Areale bei bestimmten Tätigkeiten und unter bestimmten Eindrücken gerade aktiv sind.
Mittlerweile sind 200 Areale dokumentiert, das entspricht rund 70 Prozent des menschlichen Gehirns. Um ein Hirnareal zu analysieren, benötigt ein Wissenschaftler etwa ein Jahr; die neuesten dokumentierten Areale befinden sich in der Sehrinde und im Frontallappen. In etwa fünf Jahren – so schätzen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – wird das ambitionierte Projekt abgeschlossen sein. Die Daten von "BigBrain" werden natürlich auch in "Julich Brain Atlas" verwendet.
Neue Rückschlüsse auf Erkrankungen des Gehirns
Das dreidimensionale Modellgehirn hilft zunächst, die Struktur und Arbeitsweise des gesunden Gehirns besser zu verstehen. In einem weiteren Schritt können Mediziner die Atlas-Informationen mit Patienten-Messdaten, die sie anhand moderner Bildgebungsverfahren gewonnen haben – etwa aus dem Magnetresonanz- (MRT) oder Positronenemissionstomographen (PET) – vergleichen. Die Differenzen zwischen virtuellem Modellgehirn und individuellen Patientenbefunden lassen im klinischen Alltag Rückschlüsse auf neurologische oder neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder Schlaganfall zu.
Modelle für die Wissenschaft zugänglich
Beide Versionen des virtuellen Gehirns sind für andere Wissenschaftler frei zugänglich. Ebenso integrieren die Jülicher Forscher Daten von Kollegen in ihre Modelle. Ein besonders umfassender Datenaustausch findet über das EU-Projekt „Human Brain Project“ statt. In diesem bauen Forscher aus 23 EU-Ländern gemeinsam eine einzigartige Infrastruktur auf, in der sie Hirnforschung und Informationstechnologie vernetzen und weiterentwickeln werden. Die Daten aus dem Gehirnatlas sind ein essenzieller Beitrag dazu.