In Superposition
Das Rechnen mit Computern neu erfinden: Forschende konstruieren Maschinen, die den bizarren Regeln des Quantenkosmos gehorchen.
Bild oben: 4K = -269°C, 50mK = -273,1°C, 20mK = -273,13°C
Ein rotgold glänzendes Gebilde hängt in einem rund 2,50 Meter hohen Gestell: Es verknüpft über vier Ebenen Metallspiralen und viele gebogene metallische Leitungen. Das kunstvolle Geflecht in der Laborhalle des 2. Physikalischen Instituts der RWTH Aachen gehört zu einem Experiment, das wegweisend sein könnte für die universellen Quantencomputer der Zukunft. Deren Rechenleistung verspricht, das Rechenvermögen von heutigen Supercomputern hinter sich zu lassen wie ein Rennwagen einen Traktor.
Die schimmernde Konstruktion ist ein Kühlgerät der Extraklasse, ein Kryostat. Er kann durch Mischung von zwei unterschiedlichen Sorten des Edelgases Helium auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt kühlen, also auf fast minus 273,15 Grad Celsius – kälter als jemals im Universum gemessen. So extrem benötigen es die meisten Qubits, die empfindlichen Recheneinheiten der Quantencomputer. Nur dann laufen sie stabil und fast fehlerfrei. Die vielen elektrischen Leitungen sind gebogen, damit sie durch die extreme Kälte nicht zerreißen. Zusammen mit den Kühlspiralen und dem Gestänge verleihen sie dem Kryostaten sein typisches Aussehen eines eigenwilligen Kronleuchters. „Fotografen lieben das Motiv – es ist fast zum Sinnbild eines Quantencomputers geworden“, sagt der Physiker René Otten vom JARA-Institut für Quanteninformation und muss schmunzeln: „Dabei ist der eigentliche Quantencomputer, der Quantenprozessor, nur ganz klein und recht unscheinbar ganz unten am Kryostaten.“
Gesteuert wird dieser Quantenprozessor über die zahlreichen Leitungen. Doch genau da liegt ein Problem, das den Weg zu künftigen Quantencomputern mit Millionen Qubits erschwert. Denn um die Qubits anzusteuern und auszulesen, nutzen Forschende herkömmliche Elektronik. Diese ist aber nicht für Temperaturen unterhalb von minus 40 Grad Celsius ausgelegt. Deshalb befindet sie sich außerhalb des Kryostaten. Die elektronischen Geräte erzeugen also bei Raumtemperatur Signale, die dann über die Leitungen durch den Kryostaten laufen und schließlich beim tiefgekühlten Quantenprozessor ankommen.
„Bei 50 Qubits, die etwa Quantencomputer von IBM und Google heute verwenden, oder auch bei 100 Qubits funktioniert das noch. Aber nicht mehr bei Quantencomputern in zehn oder mehr Jahren, die über eine Million Qubits haben sollen“, ist Dr. Carsten Degenhardt vom Jülicher Zentralinstitut für Engineering, Elektronik und Analytik (ZEA-2) überzeugt. „Wir könnten bei den Quantencomputern in einigen Jahren in eine Lage kommen wie die Betreiber herkömmlicher Rechenanlagen Ende der 1950er Jahre.“ Damals entwarfen die Ingenieure immer komplexere Schaltungen, um die Rechenleistung der Computer zu steigern: Lötstellen und die Verkabelung der einzelnen Komponenten untereinander nahmen dabei in einem Maße zu, dass der Platzbedarf und die Wahrscheinlichkeit von Verbindungsfehlern enorm stiegen. Ähnliches droht bei den Qubits: Je mehr anzusteuern sind, desto mehr Leitungen werden benötigt. Das ist nicht nur ein Platzproblem: Die Leitungen sind störanfällig und je mehr Leitungen, desto mehr Störungen. Hinzu kommt, dass die Drähte Wärme abgeben und diese dann in den Kryostaten gelangt – Gift für die kältebedürftigen Qubits.
In den 1950er Jahren konnte das Kabelwirrwarr durch die Erfindung der integrierten Schaltung beseitigt werden, den Mikrochip: ein Halbleiter-Plättchen, auf das die elektronischen Komponenten – Transistoren, Widerstände, Kondensatoren – samt ihren Verbindungen aufgebracht wurden. Ein Mikrochip soll es nun auch wieder richten und die elektronischen Leitungen fast überflüssig machen. Die Herausforderung dieses Mal: Der Chip muss bei Temperaturen von rund minus 273 Grad Celsius arbeiten und digitale Eingaben genauso zuverlässig in Signale für den Quantencomputer umwandeln wie bei Raumtemperatur. Solche unerwartet toleranten Bauteile gibt es allerdings nicht zu kaufen.
Vor fünf Jahren begannen die Expert:innen des ZEA-2 daher mit den Arbeiten an eigenen Chips. Zuerst galt es zu klären, welche speziellen Anforderungen ein Quantenprozessor an einen solchen Chip stellt. Dafür nahmen das Team des ZEA-2 Kontakt auf zu den Physikern des JARA-Instituts für Quanteninformation um Prof. Hendrik Bluhm, der im Projekt QUASAR an einen Halbleiter-Quantenprozessor „made in Germany“ arbeitet. Zwischen den Forschenden um Bluhm, insbesondere René Otten, und dem ZEA-2 entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit. „Gemeinsam legten wir beispielsweise die Höhe und die Abstufung der Spannungen fest, die der Chip erzeugen soll. Und die elektrische Leistung, die er dazu maximal verbrauchen darf, um die Qubits nicht zu sehr zu erwärmen. Das sind die Grundlagen für einen Schaltplan“, sagt Dr.-Ing. Patrick Vliex, beim ZEA-2 zuständig für den Entwurf des Prototyps.
Bis dahin bewegte Vliex sich weitgehend auf den vertrauten Pfaden der Raumtemperaturelektronik. Doch mit dem nächsten Schritt betrat er unbekanntes Gebiet. Denn um den Schaltplan zu erstellen und in die konkrete Bauanleitung für den Mikrochip zu überführen – also für das Chipdesign –, benötigte er präzise Angaben über das Verhalten der einzelnen mikroelektronischen Bauelemente wie Widerstände und Transistoren. Diese Angaben liegen zwar vor, allerdings nur bis minus 40 Grad. „Es war völlig unklar, ob etwa Transistoren nahe dem absoluten Nullpunkt, also noch einmal über 230 Grad Celsius kälter, überhaupt funktionieren. Deshalb haben wir bei uns erst einmal entsprechende Tests gemacht“, sagt Carsten Degenhardt. Zum Glück erwiesen sich die Bauelemente als unerwartet tolerant: Sie verhielten sich bei sehr tiefen Temperaturen zwar anders als bei Raumtemperatur, aber erfüllten noch ihre Funktion. Die Wissenschaftler entschieden daher, weiter am Entwurf des Chips zu arbeiten und Simulationen durchzuführen.
Mit Simulationen lassen sich etwa die Spannungssignale prüfen, die der entworfene Chip aufgrund digitaler Eingaben produziert. Stimmt etwas nicht, kann das Chip-Layout ohne große Kosten geändert werden, bevor die Produktion startet. Auch den neuen Chip hat das ZEA-2 noch einmal mithilfe von Simulationen überprüft. „Wir waren uns allerdings darüber im Klaren, dass diese Simulationen unseren Kryo-Chip nur eingeschränkt widerspiegeln, denn in sie fließen eben nur die bisher erhältlichen Modelle und Daten bis maximal minus 40 Grad Celsius ein“, sagt Vliex. Die Ergebnisse dieser Simulationen waren denen der kryogenen Testmessungen aber ähnlich genug, um weiterzuarbeiten. Zudem konnte Patrick Vliex beim Chipdesign einige der möglichen Abweichungen im Verhalten der Bauelemente bei rund minus 273 Grad berücksichtigen, indem er beispielsweise zusätzliche Transistoren vorsah, die bei Bedarf zugeschaltet werden können.
Nach rund einjähriger Entwicklung beauftragten die Jülicher Elektroingenieure schließlich eine Chipfabrik damit, aus dem fertigen Entwurf einen echten Chip herzustellen. Dann hieß es erst mal warten: „Etwa ein halbes Jahr später hat die Chipfabrik den Prototyp in mehrfacher Ausfertigung geliefert, und damit war alles bereit für unseren ersten Probelauf zusammen mit den Aachenern“, erzählt Vliex. Die hatten in der Zwischenzeit weiter an ihrem halbleitenden Qubit geforscht. Das Qubit wird in einem halbleitenden Plättchen aus mehreren Schichten erzeugt (siehe Seite „Ein offenes Rennen“), das Plättchen ist auf einer Platine aufgebracht. Auf diese Platine setzte René Otten auch den Tieftemperatur-Chip des ZEA-2. Im März 2022 war es dann so weit: René Otten schloss die wärmeisolierende Hülle des Kryostaten und startete das Experiment im Aachener Physikgebäude. Die folgenden mehrtägigen Messungen zeigten, dass die Signale des Chips im Kryostaten den Qubit-Chip wie gewünscht ansteuern. „Das hat perfekt funktioniert. Der nächste Schritt ist zu prüfen, ob der Chip auch Signale ausliest wie gewünscht. Langfristig wollen wir ein Verfahren etablieren, mit dem wir Kryoelektronik-Chips auf die gleiche Weise entwerfen wie heute schon Raumtemperatur-Mikrochips. Dazu gehört es auch, die bestehenden Modelle für Simulationen anzupassen“, sagt Degenhardt. Das soll bereits in einem weiteren Quantencomputerprojekt zusammen mit Partnern aus Forschung und Industrie umgesetzt werden: im 2022 gestarteten Projekt Q-Solid.
Das rotgold glänzende Leitungsgeflecht für die elektronische Steuerung könnte also schon bald weitgehend wegfallen. Der Kryostat wäre dann vermutlich weniger fotogen. Dafür ist der Einstieg in eine Technologie gemacht, die in zehn oder zwanzig Jahren einen Millionen-Qubits-Quantenrechner ermöglichen soll.
Text: Frank Frick | Bilder: Forschungszentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach, René Otten | Illustrationen: Andrzej Koston