Er galt als Shootingstar der Wissenschaft und Anwärter auf den Nobelpreis: Jan Hendrik Schön. Allein 2001 erschienen 17 Arbeiten des Physikers in den renommierten Fachjournalen "Science“ und „Nature". Dann folgte der tiefe Fall: Zwei Wissenschaftlerinnen entdeckten Ungereimtheiten in Schöns Daten, der Betrug flog auf. Schön hatte in großem Stil Daten gefälscht und manipuliert. Die Uni Konstanz, an der Schön promoviert hatte, sprach vom "größten Fälschungsskandal in der Physik der letzten 50 Jahre". Es waren vor allem die Rohdaten, die Schön nicht vorlegen konnte, um die Richtigkeit seiner Arbeiten zu belegen. Bis heute bestreitet der Physiker, die Daten und Abbildungen absichtlich gefälscht zu haben.
Der Quantenphysiker
"Schöns Geschichte hat damals einen großen Ruck in der Physik ausgelöst", erzählt der Jülicher Quantenphysiker Vincent Mourik, der zu jener Zeit noch ein Teenager war. Der Weckruf habe aber bis in seine Studienzeiten an der TU Delft nachgewirkt. "Das eigentliche Problem wurde jedoch nicht gelöst, sondern hat sich nur verschoben", ist der 37-Jährige überzeugt. Der Niederländer forscht am JARA-Institut für Quanteninformation im Forschungszentrum Jülich und baut eine Nachwuchsgruppe für sein Solid State Quantum Devices Laboratory auf.
"Das Problem in der Wissenschaft ist heute weniger, dass Daten gefälscht werden, sondern eher, wie wir die Datenflut interpretieren: Wie habe ich die Daten ausgewählt, wie mache ich sie sichtbar und welche Erfolgsstory will ich erzählen", erklärt Mourik. Seine eigenen Erfahrungen haben dazu geführt, dass er heute ein Open-Science-Befürworter ist.
Open Science
… zielt darauf, alle Informationen offenzulegen, die während des wissenschaftlichen Forschungsprozesses entstehen. So sollen sich Ergebnisse leichter nachvollziehen und weiter nutzen lassen. Diese Offenheit soll außerdem die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fördern.
Mouriks Geschichte: Der Physiker hatte 2019 mit einem ehemaligen Kollegen Ungereimtheiten in einem "Nature"-Artikel entdeckt, den jene Delfter Arbeitsgruppe veröffentlicht hatte, in der Mourik einst promoviert hat. Das Paper beschäftigte sich mit dem sogenannten Majorana-Teilchen, das in der Community für sehr viel Aufsehen sorgte. Mourik und sein Kollege wunderten sich über die plötzlichen Fortschritte der Kolleg:innen, hatten sie doch selbst viele Jahre zu dem Thema geforscht. Sie baten um die Primärdaten, rechneten alles nach – und entdeckten Ungereimtheiten.
"Die Wissenschaftler:innen hatten nur jene Daten ausgewertet, die ihre Hypothese unterstützten", erklärt Mourik. Die restlichen Daten ließen sie unter den Tisch fallen – ergebnisorientiertes Auswerten heißt dieses wissenschaftliche Fehlverhalten. "So etwas darf nicht passieren", resümiert Mourik. Nach einigem Hin und Her zog die Arbeitsgruppe um Mouriks ehemaligen Doktorvater das Paper schließlich zurück. Die Geschichte ist aber bis heute nicht abgeschlossen: Ein zweiter "Nature"-Artikel musste zurückgezogen werden. Außerdem untersuchen Mourik und seine Kolleg:innen weitere veröffentlichte Artikel auf mögliche Fehler.
"Das Problem ist heute weniger, dass Daten gefälscht werden, sondern wie wir die Datenflut interpretieren."
Vincent Mourik
Mourik macht das hoch kompetitive Wissenschaftssystem für das Fehlverhalten verantwortlich: "Misserfolge kann sich heute eigentlich keiner mehr leisten. Was zählt, sind die Veröffentlichungen." Je mehr Veröffentlichungen und Erfolgsstorys, umso größer die Chance, Fördergelder einzuwerben, Forschungspreise zu bekommen und in der Wissenschaft Karriere zu machen. Dabei sei doch gerade die Wissenschaft ein Quell an Kreativität, Ideen, Versuchen, Annahmen – und eben auch Fehlern.
Eine Chance, das System aufzubrechen, sieht er in Open Science und dem Teilen von Daten. Der Niederländer setzt sich für ein offenes Online-Publizieren einschließlich offener Peer-Review-Prozesse ein – ohne Ablehnung von Einreichungen. "Plattformen sollten gemeinnützig sein und kommerzielle Wissenschaftszeitschriften sollten abgeschafft werden", fordert er. In einem digitalen Zeitalter sei es nicht mehr zeitgemäß, komplexe Forschungsfragen auf wenige Journal-Seiten zu beschränken.
Die Ombudsfrau
Die Biochemikerin Prof. Martina Pohl kann Mouriks Unmut nachvollziehen. Sie ist seit mehr als drei Jahrzehnten als Forscherin im Einsatz und seit fünf Jahren zudem als Ombudsfrau für gute wissenschaftliche Praxis im Forschungszentrum Jülich. Das bedeutet: Wer Sorgen hat – sei es im Umgang mit Daten, Vorgesetzten oder Veröffentlichungen –, kann sich an Martina Pohl und zwei weitere Kollegen wenden. Für die Wissenschaftlerin steht fest: "Fehler passieren. Entscheidend ist, wie wir mit ihnen umgehen. Wir sollten zu ihnen stehen und aus ihnen lernen."
Einen Fall, wie Vincent Mourik ihn schildert, habe sie am Forschungszentrum noch nicht erlebt, "was jedoch nicht bedeutet, dass es solche Fälle nicht gibt." Das ergebnisorientierte Auswerten von Daten – wie es im Fall des zurückgezogenen "Nature"-Papers geschehen ist – sei schon der erste Schritt hin zu einem wissenschaftlichen Fehlverhalten. "Dieser Tunnelblick auf die eigenen Daten ist menschlich, aber wissenschaftlich nicht korrekt, sondern ein Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis", bringt sie es auf den Punkt.
Geschehen Fehler, müsse man die Ursache erfassen. "Für uns Betreuer:innen von wissenschaftlichen Arbeiten bedeutet das aber auch, Verantwortung zu übernehmen: Wir müssen Bedingungen schaffen, dass sich die Fehler nicht wiederholen", erklärt die 62-Jährige. Handele es sich um Informationslücken bei der korrekten Anwendung von Messmethoden oder bei der Auswertung, so müssen diese erkannt und durch entsprechende Aufklärung geschlossen werden.
"Dieser Tunnelblick auf die eigenen Daten ist menschlich, aber wissenschaftlich nicht korrekt."
Martina Pohl
Und befürchtet doch jemand einen potenziellen "Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis", stehen Martina Pohl und ihre Kolleg:innen zur Verfügung und überprüfen den Verdachtsfall. "Reicht unsere Expertise nicht, würden wir weitere Experten ins Boot holen, die uns darin unterstützen, herauszufinden, ob der Verdacht begründet ist." Im Zweifelsfall gebe es einen Untersuchungsausschuss, auch der Vorstand würde miteinbezogen werden, um mögliche Konsequenzen zu ziehen.
Pohls Beobachtung: Das Wissenschaftssystem, seine Komplexität und Hierarchie, trügen dazu bei, dass sich insbesondere junge Wissenschaftler:innen oft schwertun, auf Fehlverhalten ihrer Vorgesetzten hinzuweisen: "Sie sind ja abhängig von der Institutsleitung, dem Doktorvater oder der Doktormutter", sagt Martina Pohl. Als Hinweisgebende laufen sie dann Gefahr, die eigene wissenschaftliche Karriere zu beschädigen.
Auch Vincent Mourik quälten damals Karrieresorgen, als er sich entschied, das Majorana-Paper und damit seinen ehemaligen Doktorvater infrage zu stellen: "Ich lag nachts wach und habe stundenlang gegrübelt." Es sei eine schwierige Entscheidung gewesen. Doch irgendwann war er sich sicher: "Wenn ich als Experte keine Kritik üben darf, warum bin ich dann überhaupt Wissenschaftler geworden?"
Die Open-Science-Expertin
Wie Vincent Mourik ist auch Monica Gonzalez-Marquez von der Zentralbibliothek im Forschungszentrum Jülich davon überzeugt, dass Open Science eine Chance ist, Forschung und Fehler transparenter zu machen. Sie arbeitet als Open-Science-Managerin und "unterrichtet" Forscher:innen im "Fach" Open Science. Ihr Credo an die Wissenschaft: "Es geht darum, verlässliches und transparentes Wissen zu schaffen, von dem die Gesellschaft profitiert. Es reicht aber nicht, einfach nur Daten oder Paper zu teilen und öffentlich zur Verfügung zu stellen", ist die Kognitionswissenschaftlerin überzeugt. Stattdessen braucht es eine standardisierte Dokumentation der Daten und Methoden, damit Wissenschaftlerinnen auch Jahre später noch darauf zurückgreifen können.
"Sind die Daten und Methoden nachvollziehbar dokumentiert, lassen sich nicht nur Förderanträge deutlich schneller schreiben, sondern auch Promotionen oder andere Forschungsarbeiten, weil Nutzer:innen ohne zeitaufwendige Recherche Daten und Methoden finden und auf sie zurückgreifen können", erklärt die Open-Science- Managerin. Doch noch stehe man am Anfang: "Open Science ist noch eine sehr junge Bewegung. Die Forscher:innen müssen lernen, anders zu arbeiten und zu dokumentieren." Das sei keine Extraarbeit, sondern die Grundlage, von der alle profitieren.
"Es geht darum, verlässliches und transparentes Wissen zu schaffen, von dem die Gesellschaft profitiert."
Monica Gonzalez-Marquez
An der Stelle setzt auch Vincent Mourik an: Als Gruppenleiter zählen für ihn nicht nur Erfolg und die Anzahl der Veröffentlichungen seiner Mitarbeiter:innen, sondern dass sie verantwortungsvoll und nachvollziehbar forschen und ihre Ergebnisse öffentlich teilen, um die Wissenschaft insgesamt voranzubringen. Sowohl Mourik als auch die Biochemikerin Pohl und die Open-Science-Managerin Gonzalez-Marquez sind überzeugt davon, dass Open Science hilft, Wissenschaft transparenter zu machen – und damit auch den Umgang mit Fehlern. Mouriks Fazit: "We can do better – da können wir besser werden".
Text: Katja Lüers | Fotos: Forschungszentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach (2), Forschungszentrum Jülich/Sascha Kreklau; Grafik: Jamesbin
Kontakt
- Peter Grünberg Institut (PGI)
- JARA-Institut für Quanteninformation (PGI-11)
- Institut für Bio- und Geowissenschaften (IBG)
- Biotechnologie (IBG-1)
Monica Gonzalez-Marquez
Science Manager
JüOSC - Open Science Collection at the Jülich Central Library
Science Reading Seminars
Scientific Process Documentation Seminars