Mehr Chancengleichheit

Warum gehen der Wissenschaft auf dem Weg in Führungspositionen so viele talentierte Frauen verloren? Das ist eine Frage, die Juniorprofessorin Irene Vercellino neben ihrer Forschung zur Strukturbiologie umtreibt.

Prof. Irene Vercellino
Prof. Irene Vercellino erhielt im November 2024 den renommierten Förderpreis „For Women in Science“ von L‘Oréal, der Deutschen UNESCO-Kommission und dem Deutschen Humboldt-Netzwerk. Im Dezember 2024 wurde sie darüber hinaus für ihre herausragende wissenschaftliche Arbeit in das Junge Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste aufgenommen.
Forschungszentrum Jülich/Jenö Gellinek

Die Wissenschaftlerin, die seit zwei Jahren ihre eigene Forschungsgruppe am Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C) leitet, brennt für ihr Fachgebiet. Wenn Irene Vercellino über Mitochondrien spricht – das sind fundamentale Bestandteile aller biologischen Zellen mit Zellkern (siehe Kasten) – ist sie mit Begeisterung dabei: „Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen“, schwärmt sie. Doch Fehler in der inneren Membran von Mitochondrien können schwere Organschäden und neurodegenerative Erkrankungen verursachen. „Manche dieser Fehler sind sogar so gravierend, dass betroffene Organismen nicht lebensfähig sind“, so Vercellino.

Sie möchte herausfinden, wie genau sich die mitochondriale Membran faltet und wieso das Mitochondrium als Ganzes nicht mehr funktioniert, wenn dabei etwas schief geht. Hierzu nutzt sie modernste Technologie wie die Kryo-Elektronenmikroskopie am ER-C und die Hochleistungsrechner des Jülich Supercomputing Centre. Mit deren Hilfe macht sie die Bausteine der Mitochondrien in ihrer natürlichen Umgebung bis ins atomare Detail sichtbar.

Das Verschwinden der Frauen über die Zeit

Neben ihrer wegweisenden Forschung setzt sich Irene Vercellino für Chancengleichheit ein, insbesondere in puncto Führungspositionen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften. Bereits während ihrer Postdoc-Zeit am österreichischen Institute of Science and Technology Austria schloss sie sich der Initiative „STEM-fatale“ an. STEM steht für Science, Technology, Engineering, and Mathematics; gleichzusetzen mit der deutschen Abkürzung MINT: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. STEM-fatale möchte das Bewusstsein für Stereotype schärfen und diese dadurch aufbrechen. Ein Beispiel ist das Phänomen der „leaky pipeline“ in den MINT-Fächern. Es beschreibt das sukzessive Verschwinden hochqualifizierter Hochschulabsolventinnen mit jeder Qualifikations- und Karrierestufe. Selbst in Fächern, in welchen zunächst das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist, scheiden Frauen beim Rennen um Führungspositionen nach und nach aus.

„Eine Studie der Harvard Business School zeigt, dass Frauen als hochqualifizierte Arbeitskräfte nicht mangels Talent, sondern durch gesellschaftlich geprägten Erwartungsdruck und Vorurteile verloren gehen“, berichtet Vercellino. Außerdem haben Frauen schlechtere Karten bei Bewerbungen, wie eine Studie der Universität Toronto von 2024 ergab. Die beteiligten Forscher:innen hatten identische Bewerbungsunterlagen mit männlich oder weiblich klingenden Namen oder nichtbinärer Identitätsbezeichnung eingereicht. Das Ergebnis: Die Bewerbung der vermeintlichen weiblichen Bewerberinnen hatten signifikant schlechtere Chancen ein Stellenangebot zu erhalten als die männlichen, Personen mit nichtbinärer Bezeichnung schnitten noch schlechter ab.

Rollen gerechter verteilen

Privat lebt Irene Vercellino bereits Chancengleichheit. Seit sie mit ihrem Ehemann in Deutschland wohnt, hat sich ihr Alltag nochmals intensiviert. Im vergangenen Jahr sind die beiden Eltern geworden. Die Rollenverteilung: Irene arbeitet mit Schwung an ihren Forschungsprojekten. Ihr Mann kümmert sich momentan Vollzeit um das Baby.

Für gleiche Chancen im Wissenschaftsbetrieb braucht es aber mehr als eine ausgeglichene familiäre Rollenverteilung, ist Vercellino überzeugt: „Auch am Arbeitsplatz muss sich etwas ändern. Denn noch immer werden Wissenschaftlerinnen dort aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt“, sagt sie.

So verfolgt STEM-fatale mehrere Ziele, welche die Initiative mit der Umdeutung des Akronyms STEM beschreibt: Survey, Transformation, Exchange, and Mentoring – Umfrage, Transformation, Austausch und Mentoring. Mithilfe einer wissenschaftlichen Umfrage wollen die Initiator:innen die wesentlichen Faktoren identifizieren, warum weniger Frauen Führungspositionen besetzen. Aus den Ergebnissen erarbeiten sie dann evidenzbasierte Strategien, um bildungs- und gesellschaftspolitische Stolpersteine für Frauen auszuräumen. Auch Mentoring- und Coaching-Plattformen, die den Austausch untereinander fördern, sowie Schulungen und Workshops stehen auf dem Plan.

Eine weitere Idee aus dem Werkzeugkasten des STEM-fatale-Teams möchte Irene Vercellino gerne nach Deutschland bringen: „Wir haben im Raum Wien ein erfolgreiches Format etabliert, um Mädchen für Wissenschaft zu begeistern. Die Jugendlichen konnten beim #GirlsGoTech-Kreativwettbewerb entweder eine berühmte Frau oder deren Leistung aus Forschung und Technik darstellen oder selbst in eine Erfinder:innen-Rolle schlüpfen.“ Einen vergleichbaren Wettbewerb könnte sie sich auch gut in der Region Aachen-Jülich vorstellen: „Rollenvorbilder ermutigen, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen. So können wir schon früh die Weichen stellen, dass Talente dabeibleiben.“

Text: Brigitte Stahl-Busse

Mitochondrien: Alle Lebewesen mit Zellkern, wie Pflanzen, Tiere und Menschen, haben in ihren Zellen Mitochondrien. Diese Zellbestandteile versorgen den Organismus mit Energie. Sie sind ummantelt mit einer Doppelmembran, die im Inneren der Mitochondrien vielfach gefaltet ist. Genau dort – in der inneren Membran – finden wichtige Prozesse für die Energiezufuhr der Zelle statt. Membran-Fehler, welche die Funktion der Mitochondrien beeinträchtigen, haben teils schwerwiegende Folgen wie Herz- und Muskelkrankheiten oder Demenz. Sie verursachen im Verlauf der Zeit aber auch übliche Alterserscheinungen, wie Osteoporose oder das Ergrauen der Haare.

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Letzte Änderung: 09.04.2025