Kirigami-Faltkunst für die Hirnforschung: Jülicher Forschungsteam entwickelt neuartige 3D-Neurosonden
Kirigami-Faltkunst für die Hirnforschung: Jülicher Forschungsteam entwickelt neuartige 3D-Neurosonden
12.06.2025
Forschende vom Institut für Biologische Informationsverarbeitung (IBI-3) am Forschungszentrum Jülich haben gemeinsam mit Partnern aus Deutschland eine neuartige Methode entwickelt, um hochkomplexe, flexible Mikroelektroden in 3D-Strukturen zu falten – inspiriert von der japanischen Kunst des Kirigami. So können Hirnsignale nicht nur an der Oberfläche, sondern auch tief im Gewebe gemessen werden. Die Technologie könnte neue Perspektiven für die Hirnforschung und langfristig auch für neurotechnologische Anwendungen in der Medizin eröffnen. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal Advanced Materials veröffentlicht und in Advanced Science News präsentiert.
Von der flachen Folie zum 3D-Hirninterface
Die sogenannten 3D-Mikroelektrodenarrays (MEAs) bestehen aus hauchdünnen flexiblen Folien, die sich mithilfe eines speziellen thermischen Formpressverfahrens – dem sogenannten "Matched-Die-Forming" – in aufrechtstehende Strukturen falten lassen. Diese sind nicht breiter als ein menschliches Haar, tragen jeweils mehrere Elektroden und ermöglichen es, die elektrische Aktivität in verschiedenen Schichten des Gehirns gleichzeitig zu erfassen.
„Im Gegensatz zu bisherigen Verfahren können wir mit unserem Ansatz bis zu 128 dieser Strukturen gleichzeitig falten – schnell, zuverlässig und ohne giftige Materialien oder aufwendige Einzelschritte“, sagt Marie Jung, Erstautorin der Studie und Doktorandin am Forschungszentrum Jülich.
Die Methode ist nicht nur vergleichsweise einfach, sondern auch skalierbar – ein wichtiger Schritt hin zur Anwendung in der Neurotechnologie.
Kirigami im Mikrometerbereich
Flexible Mikroelektroden in 3D-Strukturen – inspiriert von der japanischen Kunst des Kirigami. | Copyrights: Forschungszentrum Jülich
Während herkömmliche 3D-MEAs aus starren Materialien wie Silizium bestehen oder in aufwendiger Handarbeit gefaltet werden müssen, basiert der neue Ansatz auf flexiblen, gut verträglichen Materialien, die unerwünschte Gewebereaktionen oder Abstoßungen minimieren. Das Team verwendet eine nur wenige Mikrometer dünne Polymerfolie, die ähnlich biegsam ist wie Frischhaltefolie – aber stabil genug, um als Hirnsonde zu dienen. In einem maßgeschneiderten Formenpaar wird das flache Design unter Hitze und Druck in seine endgültige, dreidimensionale Form gebracht.
„Was mich immer wieder überrascht, ist, wie gut sich ein eigentlich makroskopisches Verfahren wie das Formpressen auf mikroskopischer Ebene anwenden lässt“, erklärt Viviana Rincón Montes, Korrespondenzautorin der Studie und Wissenschaftlerin am IBI-3. „Unsere Designs sind so robust, dass sie sowohl den mechanischen Belastungen bei der Implantation als auch biologischem Stress standhalten.“
Einsatz im Labor und im Tiermodell
Die entwickelten Sonden wurden zunächst im Labor getestet – auf ihre elektrochemische Leistungsfähigkeit, Faltqualität und mechanische Belastbarkeit. Anschließend folgten Einsätze in Gehirnschnitten von Patient:innen mit Epilepsie sowie in lebenden Mäusen. Dabei konnten sowohl oberflächliche als auch tieferliegende Hirnsignale aufgezeichnet werden – darunter epileptiforme Aktivitäten in menschlichem Gewebe und sensorische Reaktionen auf Berührungen oder Lichtreize im Tiermodell.
Die Kombination aus hoher räumlicher Auflösung, „single-shot“ Implantation und Flexibilität macht die Technologie besonders vielversprechend – etwa für den Einsatz in Hirn-Computer-Schnittstellen oder zukünftige Therapien.
Perspektiven für die Medizin
Langfristig könnte die Technik unter anderem bei der Entwicklung visueller Prothesen zum Einsatz kommen. Dank der Vielzahl integrierter Elektroden lassen sich nicht nur Signale aus dem Gehirn auslesen, sondern auch Reize gezielt zurückspielen – etwa in der Netzhaut oder dem visuellen Kortex.
„Wir arbeiten derzeit daran, die Elektrodenbeschichtung weiter zu verbessern und die elektrische Verschaltung zu miniaturisieren“, so Rincón Montes. „Unser Ziel ist ein möglichst kleines, leichtes und leistungsfähiges Implantat, das alle 512 oder mehr Elektroden zuverlässig auslesen kann.“
Bis zur klinischen Anwendung sei es zwar noch ein weiter Weg, doch der Grundstein ist gelegt – mit einem Verfahren, das Hightech und Handwerkskunst auf mikroskopischer Ebene vereint.
Kirigami ist eine Variante des Origami, der japanischen Kunst des Papierfaltens, bei der das Papier nicht nur gefaltet, sondern auch geschnitten wird. Dadurch entstehen dreidimensionale Designs, die sich von der Seite abheben, ohne dass Klebstoff verwendet wird.