Digital in eine neue Ära

Wir alle haben eins, wir alle benutzen es: Trotzdem bleibt das menschliche Gehirn für die meisten ein absolutes Mysterium – und selbst für Forschende eine kolossale Herausforderung. Um diese zu meistern, hat sich die Hirnforschung völlig neu erfunden – mithilfe der Digitalisierung. Ein Erfolg, der ohne Jülich nicht möglich gewesen wäre.

Portrait von Prof. Katrin Amunts bis zur Hüfte, neben ihr ein digital erstelltes Gehirn, das blau, pink leuchtet.
Ab in die Zukunft: Prof. Katrin Amunts (INM-1) hat die Digitalisierung der Hirnforschung zusammen mit dem JSC stark vorangetrieben – in Jülich und Europa. | Mareen Fischinger / Forschungszentrum Jülich

Das Gehirn hat Prof. Katrin Amunts schon immer fasziniert. „Es ist eines der komplexesten Systeme überhaupt, vergleichbar mit dem Universum. Es hat nicht nur rund 86 Milliarden Nervenzellen, sondern auch eine schier unvorstellbare Zahl an Verbindungen und unterschiedlichen Zuständen, die es einnehmen kann*“, schwärmt die Direktorin des INM-1, die sich dem Gehirn bereits in ihrem Medizinstudium verschrieb. „Die Hirnforschung von damals war aber eine völlig andere als die von heute“, erinnert sich Amunts. 1999 kam sie als Postdoc zu Prof. Karl Zilles ans FZJ, um das Forschungsthema hier mit aufzubauen. Da hatte sie gerade vier Jahre damit verbracht, neuartige ­Karten von zwei Hirnarealen des Sprachzentrums herzustellen. „Das neuronale Netzwerk für Sprache im Gehirn ist aber viel größer. Um wirklich weiterzukommen, musste ich eigentlich das ganze Hirn so gut kennen wie diese beiden Hirnareale“, so Amunts. „Das war mit dem damaligen Stand der Technik und dem aufwendigen Kartierungsverfahren aber nicht möglich.“

* Im menschlichen Gehirn sind zu jedem einzelnen Zeitpunkt schätzungsweise 2 hoch 10 hoch 15 theoretische Zustände möglich. Das ist eine Zahl mit etwa einer Drittel Billiarde Nullen.

Sprung in die Moderne

Heute, 25 Jahre später, ist die Hirnforschung ein gutes Stück weiter: „Wir kennen bereits viele Netzwerke, die für unser Denken und Verhalten entscheidend sind. Und es gibt sehr genaue 3D-Karten für mehr als 200 Hirnareale – und in ein paar Jahren für das gesamte Gehirn“, freut sich Amunts. „Die meisten dieser Areale haben wir in Jülich zum ersten Mal überhaupt beschrieben.“ Doch woher kommt dieser gewaltige Wissenssprung? Das Stichwort heißt Digitalisierung. So machte der digitale 3D-Hirnatlas, den Amunts über zwei Jahrzehnte in Jülich entwickelte, vieles möglich, was vorher völlig undenkbar erschien: „Der Julich Brain Atlas hat erstmals unterschiedlichste, hochaufgelöste 3D-Hirnkarten mit zahllosen Tools und interaktiven Funktionen verknüpft.“

Amunts’ Atlas wurde zum Herzstück der europäischen digitalen Infrastruktur EBRAINS, die Forschende seit Januar 2024 weltweit nutzen können. Knackpunkte der digitalen Revolu­tion in der Hirnforschung: die bildgebenden Verfahren und zunehmend die KI. „Wir brauchen für unsere Arbeit möglichst genaue Abbildungen und Karten des Gehirns.“ Dafür nutzten Amunts und Zilles ab 1999 bildgebende und statistische Verfahren bei der mikroskopischen Kartierung und brachten sogenannte Wahrscheinlichkeitskarten in ein internationales Konsortium zum Human Brain Mapping ein. „Das war der erste Schritt in ein neues digitales Zeitalter.“

Schwierige Anfänge

Doch mit den immer größer werdenden Bilddateien wuchsen die Datenmengen, Computer kamen an ihre Grenzen. Im ­BigBrain-Projekt traute sich das INM 2011 dann erstmals ans Supercomputing heran. „Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit war damals in unserem Forschungsbereich noch sehr neu“, erinnert sich Amunts. Also tat sie sich 2012 mit JSC-Direktor Prof. Thomas Lippert und Prof. Markus Diesmann vom heutigen IAS-6 zusammen. Um Neurowissenschaften und Supercomputing enger zusammenzuführen, hoben sie 2013 ein entscheidendes Helmholtz-Projekt** aus der Taufe. Als wichtige Schnittstelle folgte ein gemeinsames Simulation & Data Lab, kurz SDL. „All das half dabei, Fragestellungen der Hirnforschung auf große Rechenmaschinen zu bringen“, so Amunts. „Denn hier war für uns plötzlich eine ganz andere Herangehensweise gefragt. Das war für beide Seiten harte Pionierarbeit. Aber rückblickend haben wir damit in Jülich eine neue Ära mit eingeleitet.“

** Das Helmholtz-Projekt „Supercomputing and modelling for the human brain“ wurde später als Joint Lab weiterentwickelt.

Timing ist alles!

Dass INM und JSC und damit Neurowissenschaften und Computing zu diesem Zeitpunkt näher zusammenrückten, war kein Zufall: „Das war wichtig, um auch im harten Auswahlverfahren für die zwei damals geplanten EU-Flaggschiff-Projekte mit bis dahin nicht dagewesenen Fördersummen eine Chance zu haben“, erinnert sich Amunts. Mit Erfolg: 2013 startete das letztlich über 600 Mio. Euro schwere Human Brain Project (HBP). Entscheidend war damals das Timing: „Die Neurowissenschaften waren weit genug, um anzufangen, die unterschiedlichen Ebenen der Hirnorganisation zusammenzubringen: von den Molekülen über einzelne Zellen und Mikroschaltkreise bis hin zu großen Netzwerken und Hirnarealen“, so Amunts. „Aber auch das Supercomputing war so weit, mit unseren riesigen Datensätzen und hochkomplexen Arbeitsschritten klarzukommen.“

Eine neue Generation

Rückblickend sei das HBP für Europas Hirnforschung ein absoluter Glücksfall gewesen, sagt Amunts. „Das Gehirn ist so komplex, dass sich seine Erforschung bis dahin auf viele Unterdisziplinen verteilt hatte. Ob Hirnforschung, Medizin, Robotik oder Psychologie: Im HBP haben wir unterschiedlichste Welten zum ersten Mal systematisch in ganz Europa zusammengebracht und mit Computing verknüpft. So haben wir über zehn Jahre gelernt, miteinander zu diskutieren und zu arbeiten. Denn nicht jeder kann alles, aber gemeinsam können alle mehr!“

Diese stetig wachsende internationale Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg ist für Amunts einer der größten Erfolge des 2023 abgeschlossenen EU-Projekts. „Das ermöglichte auch, eine neue Generation von Forschenden auszubilden, die genau an diesen Schnittstellen zwischen Neurowissenschaften, Medizin, Computing und Technologie arbeitet.“ Der wahrscheinlich sichtbarste Erfolg bleibt aber die digitalisierte Hirnforschung selbst: „Diese treiben wir im neuen EU-Projekt EBRAINS 2.0 weiter voran, und auch die künstliche Intelligenz wird hier immer wichtiger“, sagt Amunts. „Die Digitalisierung wird in der Hirnforschung auch künftig noch viele neue Tore aufstoßen.“

Digital in eine neue Ära
„Der Schritt vom kleinen Computer auf die ganz große Maschine war für uns riesig – als ob man jahrelang einen Kleinwagen gefahren ist und plötzlich in ein Formel-1-Auto gesetzt wird.“ – Prof. Katrin Amunts (INM-1)

Ursprünglich erschienen im Mitarbeitenden-Magazin „intern“ des Forschungszentrums Jülich.
Autor: Hanno Schiffer

Ansprechperson

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Katrin Amunts

Director of the INM-1 and Working Group Leader "Architecture and Brain Function"

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    Letzte Änderung: 13.08.2024