Lassen sich persönliche Eigenschaften eines Menschen an seinem Gehirn ablesen? Das war lange unklar, auch weil passende Untersuchungsmethoden fehlten. Künstliche Intelligenz und Big Data eröffnen neue Möglichkeiten und haben einen Perspektivwechsel in der Hirnforschung eingeläutet.
Ein menschliches Gehirn ist etwa so groß wie ein Kopf Blumenkohl. In unserem Denkapparat sind circa 86 Milliarden Nervenzellen über 100 Billionen Schnittstellen miteinander verschaltet. Beeindruckende Zahlen, aber sie spiegeln nicht die ganze Wahrheit wider. Denn es handelt sich bloß um Durchschnittswerte.
Jeder Mensch besitzt nämlich ein individuelles Gehirn, das ihn einzigartig macht. So wie sich Individuen auch in anderen Merkmalen und Eigenschaften voneinander unterscheiden: Manche haben große Ohren, andere kleine. Der eine ist ein untersetzter Gefühlsmensch, die andere eine drahtige Sportskanone. Wie jeder Mensch ist auch jedes Gehirn ein unverwechselbares Einzelstück. Die Gehirnforschung lernt erst jetzt, die Unterschiede beim menschlichen Denkorgan angemessen zu beschreiben und zu ergründen.
„Hier vollzieht sich gerade ein Perspektivwechsel. Wir fokussieren nicht mehr auf ein hypothetisches Durchschnittsgehirn, heute interessieren uns vielmehr die Unterschiede zwischen individuellen Gehirnen“, sagt Prof. Simon Eickhoff vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-7). Sein Forschungsschwerpunkt: Er möchte aus der Gehirnstruktur einzelner Menschen auf deren ganz persönliche Eigenschaften schließen, aber auch auf Krankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie oder ADHS. Und auf psychologische Kennwerte – wie etwa das Arbeitsgedächtnis, das räumliche Vorstellungsvermögen oder auch Persönlichkeitsmerkmale.
Schon seit rund 150 Jahren versucht die Forschung, die Eigenschaften eines Menschen mit der Anatomie seines Gehirns in Verbindung zu bringen. Aber erst in jüngster Zeit ist das überhaupt möglich geworden – durch Big-Data-Methoden und Maschinelles Lernen. Die Daten dafür stellt die moderne Bildgebung bereit, vor allem die Magnetresonanztomographie (MRT). Die Methode liefert detaillierte dreidimensionale Aufnahmen aus dem Inneren des Kopfs. Und mit der funktionellen MRT lässt sich sogar sichtbar machen, welche Hirnregionen gerade aktiv sind. So können die Forscher:innen dem Gehirn förmlich beim Arbeiten zusehen.
Um vernünftige Aussagen über Einzelfälle treffen zu können, muss der Algorithmus erst sehr viele Gehirne ‚ansehen‘.
Individuelle Datenmatrix
„Aus den Gehirnscans bestimmen wir die relativen Größen oder Verbindungsprofile von einigen Hundert Gehirnregionen. Diese Werte unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Wir erhalten so je Proband:in eine individuelle Datenmatrix“, erklärt Simon Eickhoff. Hinzu kommen weitere Daten, zum Beispiel Diagnosen, die Schwere und Dauer einer Erkrankung oder eben Kennwerte der mentalen Leistungsfähigkeit.
„Früher war die Bildgebung aufwendig, teuer und noch nicht weit verbreitet. Man konnte sich daher nur auf kleine Gruppen von Probanden:innen stützen. Zehn bis 20 Personen, die beispielsweise unter Morbus Parkinson litten. Man suchte dann nach Unterschieden im Gehirn zwischen der Patient:innengruppe und einer gesunden Kontrollgruppe“, sagt der Mediziner. Doch die Zahl der Proband:innen war üblicherweise zu klein, um in den Gehirnen der Betroffenen typische Veränderungen entdecken zu können.
Aber mittlerweile kann das Team um Simon Eickhoff durch die stärkere Verbreitung der MRT-Technologie auf Kohortenstudien zugreifen, an denen teilweise viele Tausende Proband:innen teilgenommen haben. Für jeden existieren Hunderte von Datenpunkten. Künstliche Intelligenz und Big Data erlauben es, diese riesigen Informationsmengen auszuwerten. Simon Eickhoff: „In den vergangenen zehn, 15 Jahren haben wir geradezu eine Explosion im Bereich des Maschinellen Lernens erlebt. Das hat auch der Gehirnforschung einen weiten Sprung nach vorne erlaubt.“
KI-Algorithmen helfen dem Team, die umfangreichen Datensätze nach relevanten Mustern zu durchsuchen. Nach komplexen Mustern, die dem menschlichen Auge oder sogar der klassischen Statistik verborgen geblieben wären. Mit jedem weiteren Trainingsdatensatz kommen diese Muster immer deutlicher zum Vorschein. Und daraus lassen sich Vorhersagen für individuelle Patient:innen ableiten.
„Ziel unserer Arbeit ist es, mit dem trainierten Modell Aussagen über Patient:innen treffen zu können, deren Daten nicht ins Training eingeflossen sind. Wir können anhand des Gehirnscans eine Krankheit wie Parkinson diagnostizieren. Und vielleicht sogar eine Prognose über den zukünftigen Verlauf des Leidens abgeben“, sagt Eickhoff.
Nicht nur neurodegenerative Leiden wie Alzheimer und Parkinson lassen sich so aus Gehirnscans diagnostizieren. Ähnliches ist auch für eine Autismus-Spektrum-Störung oder ADHS möglich. Wer wegen Depressionen mit Antidepressiva behandelt wird, könnte von den intelligenten Algorithmen eine Einschätzung erhalten, ob es sicher ist, die Psychopharmaka abzusetzen – oder ob dann ein Rückfallrisiko droht.
Ein zusätzliches Puzzlestück
Wichtig ist: Es handelt sich dabei um eine Einschätzung basierend auf den in der Bildgebung beobachteten Mustern, keine hundertprozentig sichere Aussage. Für die psychiatrische Praxis ist das aber auch nicht unbedingt notwendig, argumentiert Simon Eickhoff: „Die KI liefert dem Arzt zusätzliche Informationen, aber sie entscheidet nicht alleine. Ihr Urteil ist nur ein Puzzlestück von vielen für die Diagnose.“
Wie zuverlässig das Modell zur richtigen Einschätzung kommt, hängt vor allem von der Menge und Güte der Trainingsdaten ab. „Um vernünftige Aussagen über Einzelfälle treffen zu können, muss der Algorithmus erst sehr viele Gehirne ‚ansehen‘. Er lernt so, aus den vielen kleinen Unterschieden diejenigen herauszufiltern, die tatsächlich wichtige Merkmale für Vorhersagen sind“, so Eickhoff.
Dabei müssen die Trainingsdaten nicht nur viele verschiedene Gehirnstrukturen umfassen, sondern auch beispielsweise ethnische Faktoren berücksichtigen. Tun sie das nicht, droht eine unbeabsichtigte Diskriminierung von Minderheiten. Das Team vom INM-7 hat das probehalber mit US-amerikanischen Gehirnscans durchgespielt: Zunächst trainierte es den KI-Algorithmus ausschließlich mit Daten, die von einer einzigen, großen Bevölkerungsgruppe stammten. Anschließend ließ es die KI die Daten einer Minderheit untersuchen. Schnell zeigte sich, dass das KI-Modell dabei diverse Verzerrungen und Fehler lieferte. Simon Eickhoff: „Decken Trainingsdaten nur einen Teil der Bevölkerung ab, besteht die Gefahr, dass das Modell nicht alle relevanten Faktoren erkennt. Man muss stets damit rechnen, dass Einflussfaktoren in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen anders ausgeprägt sind, im Extremfall sogar deutlich anders.“
Lebensumstände beachten
Eine besondere Herausforderung stellen für die Forscher:innen äußere Einflussfaktoren dar, nämlich die individuellen Lebensumstände: Welchen sozioökonomischen Hintergrund besitzen die Proband:innen? In welcher Umgebung wohnen sie? Welchen Zugang zu Bildung haben sie? Welche sozialen Kontakte pflegen sie? Treiben sie Sport? Lesen sie viel? Haben sie im Lauf ihres Lebens traumatische Erfahrungen gemacht?
„Alle diese Faktoren hängen miteinander zusammen und alle haben einen Einfluss auf die Entwicklung unseres Gehirns – und damit auf die Dinge, die wir vorhersagen wollen: Veranlagungen zu Krankheiten, kognitive Fähigkeiten und Charaktereigenschaften. Wird das nicht ausreichend berücksichtigt, kann das KI-Modelle und damit die Ergebnisse verzerren“, sagt Simon Eickhoff.
Ein Ausweg könnte es sein, die KI-Modelle weiter zu verfeinern, indem sie nicht nur mit den eigentlichen Trainingsdaten gefüttert werden, sondern auch mit Vorinformationen zu den Proband:innen, etwa zum Geschlecht oder soziok-kulturellen Hintergrund. „Das ist für uns derzeit eine wichtige Forschungsfrage, in die wir noch sehr viel Arbeit werden investieren müssen“, so Eickhoff.
Mobile Health und Gehirnforschung: Für die Diagnose einer neurodegenerativen Krankheit wie Alzheimer oder Parkinson liefern MRT-Gehirnscans wertvolle Hinweise (siehe "Besserwissen"). Aber solche Aufnahmen sind aufwendig und teuer – und sie sind nur eine Momentaufnahme. Wearables wie Smartphones, Smartwaches und Fitnesstracker liefern zwar keine Gehirnscans, könnten aber ein nahezu kontinuierliches Monitoring von Patient:innen im Alltag ermöglichen. Ein Beispiel sind die Jülicher JTrack-Apps, die im Projekt ABCD-J für mobile Gesundheit in Nordrhein-Westfalen entwickelt wurden. Die Apps zeichnen engmaschig Daten zu Verhalten und Beeinträchtigungen der Patient:innen auf – in Form von Fragebögen oder über Sensordaten. So kann der Beschleunigungssensor des Smartphones zum Beispiel das Zittern des ausgestreckten Arms messen. Zittern kann ein erstes Anzeichen für Parkinson sein. Mithilfe Künstlicher Intelligenz lassen sich solche Informationen auswerten und so frühzeitig neurologische und psychiatrische Krankheiten erkennen.
Dieser Artikel ist Teil der effzett 2/2025. Text: Artur Denning, Illustrationen: SeitenPlan / Diana Köhne, Foto: Forschungszentrum Jülich