Neue Einblicke in komplexe Gehirnfunktionen durch die Erforschung einer seltenen Hirnerkrankung
Neue Einblicke in komplexe Gehirnfunktionen durch die Erforschung einer seltenen Hirnerkrankung
10. Oktober 2025
Wie wir lernen und Erinnerungen speichern gehört zu den komplexesten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und spielen eine wesentliche Rolle in allen Lebenslagen. Die molekularen und zellulären Mechanismen, die diesen komplexen Eigenschaften zugrunde liegen, sind bislang nur unzureichend verstanden. Ein Forschungsteam des Instituts für Molekulare und Zelluläre Physiologie (IBI-1) und des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin (INM-10) am Forschungszentrum Jülich hat nun neue Einblicke gewonnen – durch die Untersuchung einer seltenen genetischen Erkrankung des Menschen, die mit Intelligenzminderung und Epilepsie verbunden ist.
Das Bild zeigt einen Vergleich zwischen Hippocampusgewebe mit ClC-3-Mangel (oben links) und Wildtyp-Gewebe (healthy). Im ClC-3-defizitären Hippocampus weisen die Nervenzellen eine deutlich reduzierte strukturelle Komplexität auf, mit weniger und weniger ausgeprägten dendritischen Verzweigungen im Vergleich zu normalen Neuronen. Die Visualisierung dieser strukturellen Veränderungen liefert einen direkten Beweis dafür, wie Störungen der ClC-3-Funktion die zelluläre Architektur des Hippocampus verändern können. | Forschungszentrum Jülich / bearbeitet mit ChatGPT
Wissenschaftlicher Schwerpunkt der Studie
Die Forschenden konzentrierten sich auf zwei so genannte Chlorid/Protonen-Austauscher, die Proteine ClC-3 und ClC-4, die eine wichtige Rolle in der Kognition spielen. Sie sind besonders stark im Hippocampus und Thalamus aktiv – Gehirnregionen, die eine Schlüsselrolle beim Lernen und der Informationsverarbeitung spielen. Diese Proteine sind vorwiegend im so genannten endo-/lysosomalen System lokalisiert – einem Netzwerk kleiner Bläschen (Vesikel), die an Transport-, Recycling- und Abbauprozessen in der Zelle beteiligt sind. Dieses System sorgt unter anderem dafür, dass Moleküle richtig sortiert und abgebaut werden – eine Art „Recyclingzentrum“ der Zelle. Die Chlorid/Protonen-Austauscher tragen hier wesentlich zur Homöostase bei, also zum inneren Gleichgewicht der Zelle: Sie helfen, den richtigen pH-Wert, die elektrische Balance und damit die Funktion der Zellkompartimente aufrechtzuerhalten. Wie genau sie diese Prozesse steuern, war bislang jedoch weitgehend unklar.
Mutationen in den Genen, die ClC-3 und ClC-4 kodieren, CLCN3 und CLCN4, verursachen genetische Erkrankungen mit neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen. Patient:innen, die an diesen CLCN3- und CLCN4-assoziiertenneurodevelopmentale Störungen leiden, wiesen Schwierigkeiten beim Lernen, Denken und Problemlösen auf. Viele zeigen zudem eine globale Entwicklungsverzögerung, die ihre Bewegungen, Sprache und soziale Interaktionen beeinträchtigt. Darüber hinaus treten häufig Anfälle auf, die auf verfügbare Medikamente nur schlecht ansprechen (therapieresistente Epilepsie). Derzeit existieren keine gezielten Behandlungsansätze für diese Erkrankungen. Die Versorgung beschränkt sich vor allem auf die symptomatische Behandlung mit allgemeinen Medikamenten oder unterstützenden Therapien wie Sprach-, Physio- oder Ergotherapie. Das Fehlen wirksamer Therapieoptionen macht neue, effektive Behandlungsstrategien notwendig.
Mit Hilfe elektrophysiologischer Messungen (Untersuchung elektrischer Aktivität von Neuronen) und hochauflösender zellulärer Bildgebung an akuten Hirnschnitten von Tiermodellen, konnten die Jülicher Forschenden einen Zusammenhang zwischen der ClC-3/ClC-4-Aktivität und der Erregbarkeit und der Morphologie von Neuronen nachweisen. Sie konnten zeigen, dass diese Chlorid/Protonen-Austauscher die Anzahl einer bestimmten Klasse von Kaliumkanälen (Kv7/KCNQ) in der neuronalen Membran regulieren. Diese Kanäle steuern, wie leicht ein Neuron ein elektrisches Signal – ein sogenanntes Aktionspotenzial – auslöst. Sie wirken also wie ein „Drehregler“ für die Erregbarkeit der Nervenzellen. Fehlen funktionierende ClC-3- oder ClC-4-Transporter, verändert sich die Dichte der Kaliumkanäle an der Zelloberfläche. Das Gleichgewicht der elektrischen Signale gerät aus der Balance – Neuronen feuern zu leicht oder zu unregelmäßig. Diese Fehlsteuerung könnte die Grundlage für epileptische Anfälle und kognitive Störungen bei den betroffenen Patient:innen bilden.
Ein möglicher therapeutischer Ansatz
Diese Erkenntnisse erlaubten dem Jülicher Team, einen potenziellen therapeutischen Ansatz vorzuschlagen. Sie konnten nämlich zeigen, dass die Blockade dieser Kaliumkanälen (Kv7/KCNQ) die elektrische Aktivität von Neuronen wieder normalisieren kann – selbst dann, wenn die ClC-Transporter defekt sind.
Bedeutung der Ergebnisse
Dieser Befund erweitert nicht nur unser Verständnis darüber, wie intrazelluläre Ionenaustauscher dieneuronale Signalverarbeitung und so auch die Gehirnfunktion beeinflussen, sondern identifiziert auch eine vielversprechende Therapieoption zur Behandlung von CLCN3/4-assoziierten neurodevelopmentalen Erkrankungen.
Die Grafik veranschaulicht die vorgeschlagenen zugrunde liegenden Mechanismen, die Chlorid/Protonen-Austauscher mit der neuronalen Erregbarkeit verbinden. Unter normalen Bedingungen regulieren diese Austauscher die Dichte der Kv7/KCNQ-Kaliumkanäle in der neuronalen Membran. Indem sie beeinflussen, wie viele dieser Kanäle verfügbar sind, helfen ClC-3 und ClC-4 indirekt dabei, den Schwellenwert für das Feuern von Neuronen festzulegen und die Muster der elektrischen Aktivität zu stabilisieren, die Neuronen zur Kommunikation nutzen. Wenn Chlorid/Protonen-Austauscher ausfallen, gerät dieses Gleichgewicht aus der Balance, wodurch Neuronen anfälliger für abnorme Feuermuster werden. Diese Störung der elektrischen Signalübertragung könnte somit zu den Anfällen und kognitiven Beeinträchtigungen beitragen, die bei CLCN3/4-assoziierten Erkrankungen beobachtet werden. Die Grafik zeigt zudem eine potenzielle therapeutische Strategie: Durch pharmakologische Modulation der Kv7/KCNQ-Kanäle kann die neuronale elektrische Aktivität selbst in Abwesenheit vollständig funktioneller ClC-Austauscher wiederhergestellt werden. Durch die gezielte Anpassung der Aktivität dieser Kaliumkanäle kann die durch den Ausfall der Austauscher verursachte abnorme Erregbarkeit ausgeglichen werden, sodass Neuronen kontrollierter und physiologisch normal feuern können. | Copyrights: Forschungszentrum Jülich
Originalpublikation
Qi et al., 2025, Brain, https://doi.org/10.1093/brain/awaf243