10 Jahre Pariser Klimaabkommen – Systemforscher Prof. Dr. Jochen Linßen im Interview

Vor zehn Jahren hat die Weltgemeinschaft in Paris beschlossen, die Erderwärmung zu begrenzen. Seitdem steht fest: Klimaschutz braucht mehr als Zielzahlen – er braucht belastbare Orientierung. Genau daran arbeitet Prof. Dr. Jochen Linßen am Forschungszentrum Jülich (FZJ). Als Leiter der Jülicher Systemanalyse am Institute for Climate and Energy Systems (ICE-2) untersucht er, wie Deutschland und Europa ihre Energiesysteme transformieren können, ohne Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umwelt aus dem Blick zu verlieren.

10. Dezember 2025

Dafür nutzt sein Team komplexe Modelle, die vereinfacht wie „Was-wäre-wenn-Maschinen“ funktionieren: Sie rechnen durch, wie sich verschiedene politische, technische und gesellschaftliche Entscheidungen auf die Energiezukunft auswirken können. Die daraus entstehenden Szenarien sagen die Zukunft nicht voraus – aber sie zeigen, welche Wege realistisch und sinnvoll sind.

Phovoltaik-Anlage unter blauem Himmel
"Gelingt der schnelle und gezielte Ausbau von Wind und Sonne, profitieren auch Verkehr und Gebäude – denn über die so genannte Sektorkopplung kann erneuerbarer Strom direkt für Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen intelligent eingesetzt werden", sagt Jochen Linßen im Interview.
Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau

Zum zehnjährigen Jubiläum des Pariser Klimaabkommens haben wir mit Jochen Linßen gesprochen: Wo stehen wir heute, welche Optionen liegen auf dem Tisch – und was braucht es, damit Deutschland und Europa die Energiewende tatsächlich schaffen?

Parallel zum Interview stellen wir auf einer neuen Themenseite ausgewählte interdisziplinäre Forschungsprojekte vor, ergänzt durch eine Expert:innenliste und Podcasts. Die Seite zeigt, wie breit die jülicher Klimaforschung aufgestellt ist – und welchen Beitrag wir als Forschungszentrum selbst zur Erreichung der Klimaziele leisten.

10 Jahre Pariser Klimaabkommen. Wenn Sie auf diese Dekade zurückblicken: Wo stehen wir heute bei den Klimazielen?

Weltweit hat sich zwar der Trend steigender CO₂-Emissionen abgeschwächt, aber von Entwarnung kann keine Rede sein. 2024 erreichen die menschengemachten Emissionen mit fast 38 Milliarden Tonnen ein neues Allzeithoch. Eine Trendwende hin zu sinkenden Treibhausgasemissionen ist nicht in Sicht.

Noch gravierender: Mehrere große Volkswirtschaften haben ihre im Pariser Klimaabkommen selbst gesetzten Klimaziele bisher verfehlt. Dabei verpflichtet genau dieses Abkommen die Staatengemeinschaft, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C – möglichst 1,5 °C – gegenüber vorindustriellem Niveau zu begrenzen.

10 Jahre Pariser Klimaabkommen -  Systemforscher Prof. Dr. Jochen Linßen im Interview
Jochen Linßen
Forschungszentrum Jülich / Bernd Nörig

Die Folgen dieser verfehlten Klimapolitik sind längst sichtbar. Mit jedem Zehntelgrad zusätzlicher Erwärmung steigen die Risiken für Ökosysteme, Gesellschaften und Volkswirtschaften. Und eines ist ökonomisch eindeutig: Die Kosten zunehmender Klimaschäden werden die Ausgaben für konsequenten Klimaschutz langfristig übersteigen. Die Schäden des menschengemachten Klimawandels werden unsere zukünftigen Generationen tragen.

Wo steht Deutschland in dieser Entwicklung?

Deutschland trägt als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land Europas eine besondere Verantwortung für die europäischen Klimaschutzziele. Diese Rolle ist nicht nur politischer Anspruch, sondern auch Verpflichtung.

Das Klimaschutzgesetz von 2022 – vom Bundesverfassungsgericht eingefordert – bildet den zentralen Rahmen: Es schreibt verbindliche Klimaschutz- und Sektorziele fest und verankert den Pfad zur Netto-Treibhausgasneutralität bis 2045. Deutschland, aber auch Europa insgesamt, haben bislang wesentliche Fortschritte erzielt. Doch der aktuelle Kurs allein wird nicht reichen.

Die nächsten Etappen verlangen deutlich ambitioniertere Maßnahmen, getragen von technologischer Innovation, neuen Geschäftsmodellen und einer konsequenten politischen Umsetzung.

Was zeigen Ihre Szenarienstudien: Sind die Klimaziele realistisch – und unter welchen Bedingungen?

Unsere Forschung und Modellanalysen am Forschungszentrum Jülich zeigen klar: Die Transformation des Energiesystems ist technisch machbar und ökonomisch sogar sinnvoll. Entscheidend ist, dass wir die richtigen Weichen früh stellen. Dabei gibt es nicht nur einen Weg: Unsere Modelle und Szenarien zeigen eine ganze Bandbreite realistischer Optionen und machen sichtbar, welche Schritte heute und in den kommenden Jahren entscheidend sind, um die Ziele zu erreichen.

Nur mal als Beispiel: Gelingt der schnelle und gezielte Ausbau von Wind und Sonne, profitieren auch Verkehr und Gebäude – denn über die so genannte Sektorkopplung kann erneuerbarer Strom direkt für Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen intelligent eingesetzt werden. So sinkt der Bedarf an Erdöl und Erdgas deutlich und die Abhängigkeiten von einzelnen Ländern werden gemildert. Solche Zusammenhänge verdeutlichen, wie stark heutige Entscheidungen das Energiesystem und die Versorgungssicherheit von morgen beeinflussen.

Gerade darin liegt eine große Chance: Wer Optionen aus Forschung und Entwicklung jetzt konsequent nutzt, kann neue Innovationen schneller vom Prototypen in die breite Anwendung bringen. So lassen sich Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz gemeinsam stärken und die Transformation kann aktiv gestaltet werden – statt später unter größerem Druck reagieren zu müssen.

Die allzu schnell verdrängte Erdgaskrise 2022, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, hat deutlich gezeigt, wie verletzlich Wirtschaft und Gesellschaft bei der plötzlichen Verknappung fossiler Energieträger sind. Auch das haben unsere Modelle klar gezeigt: Ein treibhausgasneutrales Energiesystem ist deutlich weniger anfällig und erhöht die geostrategische Sicherheit der Energieversorgung. Mehr Resilienz ist kein Nebenprodukt, sondern ein integraler Bestandteil der Transformation.

Eine Abkehr vom ambitionierten Klimaschutz wäre daher wirtschaftlich wie gesellschaftlich kontraproduktiv. Klimaschutz ist längst Teil moderner Wertschöpfung. Gleichzeitig müssen mögliche Wettbewerbsnachteile für die Industrie im globalen Handel abgefedert werden durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen wie Förderprogramme für klimafreundliche Produktionsprozesse oder verlässliche global greifende CO₂-Preise. Entscheidend ist, Wettbewerbsfähigkeit, Klima- und Umweltschutz sowie Resilienz gemeinsam zu denken.

Welche konkreten Fragen aus Politik, Ministerien oder Behörden landen bei Ihnen auf dem Tisch – und wie helfen Ihre Modelle, darauf Antworten zu finden?

Immer wieder werden uns zentrale Fragen zur Zukunft des Energiesystems gestellt: Wie sicher ist die Versorgung in Zeiten von Dunkelflauten? Kann Deutschland zusammen mit Europa sich unabhängiger von fossilen Energieimporten machen? Welche Infrastrukturen und Techniken müssen wann verfügbar sein, um das Ziel zu erreichen? Wie werden erneuerbare Energien gespeichert, transportiert und wo werden diese genutzt?

Diese Fragen sind berechtigt – und sie lassen sich nur mit fundierten wissenschaftlichen Methoden und Modellen beantworten. Mit unserer Modellsuite ETHOS gehen wir diesen Fragen nach, indem wir das Energiesystem Deutschlands mathematisch abbilden – von Strom- und Wärmenetzen über Industrieprozesse bis zu globalen Energieflüssen. Mit ETHOS berechnen wir zum Beispiel, welche Kombination von Technologien die Versorgung zuverlässig und gleichzeitig kostengünstig macht, wie viel erneuerbare Energien dafür nötig sind oder wo Engpässe entstehen können. Mit unserer Modellsuite ETHOS werden genau solche Analysen möglich. Sie erlaubt unvoreingenommene, wissenschaftlich fundierte Untersuchungen zu Technologien, Transformationspfaden, Wertschöpfungsketten und Markthochläufen in zukünftigen Energiesystemen.

Dabei betrachten wir nicht nur technische Entwicklungen wie Batterien, Netzausbau oder potenzielle langfristige Optionen wie die Kernfusion, sondern auch politische, ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie etwa Genehmigungsregeln für Windräder oder die Akzeptanz neuer Energietechniken in der Gesellschaft. Unsere Szenarien machen diese Zusammenhänge transparent und bieten Politik, Regierung, Industrie und Wissenschaft eine fundierte Entscheidungsgrundlage.

Wie verlässlich sind diese Szenarien?

Energieszenarien bringen technische, gesellschaftliche und ökologische Dimensionen zusammen und vermitteln ein Gesamtbild eines hochkomplexen Systems. Sie zeigen mögliche Lösungswege und Optionen auf – sind aber nicht mit Prognosen zu verwechseln.

Prognosen versuchen, die Zukunft vorherzusagen, ähnlich einem Wetterbericht. Doch so wenig es einen verlässlichen Wetterbericht für die nächsten 25 Jahre geben wird, so wenig ist eine exakte Vorhersage des zukünftigen nationalen oder globalen Energiesystems möglich.

Was Szenarien aber leisten: Sie zeigen, welche Wege möglich sind, welche Entscheidungen notwendig wären und welche Konsequenzen unterschiedliche Pfade haben. Genau das macht sie zu einem unverzichtbaren Instrument für faktenbasierte, verantwortungsvolle Energie- und Klimapolitik.

Wenn wir uns zum 20-jährigen Jubiläum des Pariser Klimaabkommens wieder sprechen: Was hoffen Sie, über die Energiewende in Deutschland sagen zu können?

Ich hoffe sagen zu können, dass Deutschland den Übergang von ehrgeizigen Plänen zu entschlossenem Handeln geschafft hat – und damit zeigt, dass Klimaschutz und wirtschaftliche Stärke keine Gegensätze sind. Dass zentrale Technologien ihren Durchbruch erlebt haben, von erneuerbaren Energiesystemen bis hin zu leistungsfähigen Speichern und einer funktionierenden Wasserstoffinfrastruktur.

Und ich hoffe, dass unsere Analysen dazu beigetragen haben, diesen Weg verlässlich zu gestalten: indem sie Orientierung geben, Risiken sichtbar machen und Optionen aufzeigen. Wenn wir das erreichen, dann wird die Energiewende nicht nur gelingen – sie wird ein Standortvorteil für Deutschland und Europa sein.

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    Letzte Änderung: 10.12.2025